Timo Daum, der Autor dieser Nautilus-Flugschrift, deren Titel an jenen des Marxschen Hauptwerkes erinnert, erteilt allen Prognosen eine Absage, die den Kapitalismus auf sein Ende zusteuern sehen. Vielmehr nimmt Daum an, dass sich der Kapitalismus zum wiederholten Male transformiert und sich dabei intensiviert. Durch neue, internetbasierte Technologien gelingt es diesem, uns immer weiter in den Sog der Kapitalakkumulation hineinzuziehen. Heute leben wir – so Daum – im Zeitalter der digitalen Waren und damit im „digitalen Kapitalismus“. Es sind v.a. die informationsverarbeitenden Technologien und Algorithmen, die das Fortbestehen kapitalistischer Verhältnisse sichern. Durch die rasant fortschreitende Technologie-entwicklung kommt es jedoch in immer kürzeren Abständen zu wirtschaftlichen Disruptionen. Das bedeutet, auch große Unternehmen und Konzerne sind einem hohen Innovationsdruck ausgesetzt und verschwinden dementsprechend auch so schnell, wie sie aufgetaucht sind.
Es sind nicht nur die Innovationen in der Produktionsweise, sondern auch die digitalen Waren selbst, die durch ihre Eigenschaften den Kapitalismus transformieren. Digitale Waren – Musik, Filme, Apps, Programme, Berichterstattung etc. – sind nahezu zum Nulltarif vervielfältigbar. Ihre Grenzkosten tendieren gegen Null. Information und Wissen bringen jedoch nur dann hohe Gewinne, wenn sie auf verschiedene Weise „eingezäunt“ und monopolisiert werden. Dominante „Internet-Riesen“ wie Google zeugen von diesem Mechanismus. Sie versuchen immer mehr digitale Angebote an sich zu reißen. Aspekte der angesprochenen Transformation lassen sich auch anhand der Sharing-Ökonomie nachzeichnen. Diese setzt traditionelle Angebote ebenfalls vermehrt unter Druck. Daum geht davon aus, dass in naher Zukunft die „Stromriesen“ ins Hintertreffen geraten werden; und zwar durch die Erzeugung von Strom in sog. „Prosumer-Plattformen“, bei der eine Vielzahl von Privatpersonen selbst erzeugte und erneuerbare Energie in ein „Peer-to-Peer-Netzwerk“ einspeisen. Jedes Projekt im Bereich der Sharing-Ökonomie ist jedoch selbst gefährdet kapitalistisch „eingehegt“ zu werden. Plattformen wie Uber oder Airbnb überformen den Sharing-Gedanken. Sie nutzen privates Eigentum, wie den privaten PKW oder die eigene Wohnung zur Akkumulation von Kapital. In der Regel auf Kosten anderer, wie der privaten „Taxifahrer“ bei Uber, die sich selbst um einen Spottpreis verkaufen.
Daum spricht sich für vermehrte Transparenz aus
Die Digitalisierung trägt noch andere „Früchte“. Hinter vielen Technologien liegen immer komplexere und damit undurchsichtigere Algorithmen. Wir sind auf immer mehr digitale Prozesse angewiesen, die wir nicht (mehr) durchschauen. Die Verortung und Zuschreibung von Verantwortung wird dadurch immer schwieriger. Aber nicht nur das: Auf der Grundlage von Algorithmen werden wir selbst und unsere Identitäten zudem immer mehr zu Waren. Unternehmen wie Google und Facebook sammeln automatisiert eine riesige Menge von Daten, die sie in kapitalistischer Manier – u.a. durch individuell zugeschnittene Werbung – verwerten. Die dafür notwendigen Inhalte und Informationen erzeugen wir selbst und zwar kostenlos. Das bedeutet: Wir sind in diesen Verwertungsprozess so stark verstrickt wie nie zuvor. Daum behauptet daher wohl zu Recht: „Der Kapitalismus ist keine fremde, uns knechtende Macht: Wir selbst sind der Kapitalismus.“ (S. 123) Das zeigt sich auch in unserem Arbeitsleben. Arbeit „entgrenzt“ sich zunehmend. Und das zeigt sich darin, dass wir in der Freizeit immer mehr auf die Verwertung unserer eigenen Person „schielen“; alles kann heute zum potentiellen Wettbewerbsvorteil werden. Selbstoptimierung steht auf der Tagesordnung, fast rund um die Uhr. Jedes Individuum wird zum „Unternehmer seiner selbst“ und lässt sich – sowohl als Produzent als auch als Konsument von Information – in den „digitalen Kapitalismus“ perfekt einpassen.
Im „Eiltempo“ beschreibt Daum eine Vielzahl aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen. Gleichzeitig benennt er ihre tiefsitzenden Probleme, die der Grundstruktur des Kapitalismus, aber auch der neu entstehenden digitalen Ökonomie geschuldet sind. Ein Modell, das zumindest einige Auswüchse des Kapitalismus eindämmen könnte und mittlerweile auch von VertreterInnen der Wirtschaft angepriesen wird, ist das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Für Daum bricht das BGE jedoch nicht mit der kapitalistischen Logik. Der Großteil unseres Daseins, seien es unsere sozialen Kontakte oder unsere Grundbedürfnisse, bleibt auch unter dem BGE geld- und wertvermittelt. Ein bedürfnisorientiertes Wirtschaften sei auch mit einem Grundeinkommen nicht zu haben. Darum plädiert der Autor für nahezu klassisch sozialistische Forderungen, wie etwa für eine allgemeine und kostenlose Grundversorgung. Was die Sphäre der Information betrifft, spricht sich Daum für mehr Transparenz aus. Die Entscheidung darüber, wie und wofür digitale Daten eingesetzt und verwendet werden, soll nicht privaten Unternehmen überlassen, sondern vielmehr demokratischen Prozessen unterworfen werden. Dominik Gruber
Daum, Timo. Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie. Hamburg: Ed. Nautilus, 2017. 272 S. (Nautilus Flugschrift), € 18,- [D], 18,50 [A] ISBN 978-3-96054-058-8