Matthias Glaubrecht

Das Ende der Evolution

Ausgabe: 2020 | 4
Das Ende der Evolution

Matthias Glaubrecht hat ein Grundlagenwerk zum Verlust der Biodiversität geschrieben, welches in Umfang und Detailreichtum seinesgleichen sucht. Die zentrale These, die auf knapp 1 000 Seiten abgehandelt wird, ist, dass wir auf das „Ende der Evolution“ zusteuern, indem wir gerade das sechste große Artensterben der Erdgeschichte verursachen – ein „Sterben von globalem Ausmaß“, das in „erdgeschichtlich kürzester Zeit“ passiert und insofern in der Erdgeschichte einzigartig ist (S. 33).

Der Zoologe beginnt mit einer kurzen Evolutionsgeschichte des Menschen, in die er unser, der Umwelt gegenüber destruktives, Verhalten einordnet. Der Mensch ist bei Glaubrecht nicht die „Krone der Schöpfung“, sondern ein anpassungsfähiges, kooperationsfähiges und intelligentes Tier, dessen „Pioniergeist“ ihm einst das Überleben sicherte. Dieser Pioniergeist gab den Menschen die Flexibilität, sich Lebensräume zu erschließen, aber auch die Gewohnheit, mit Ressourcen sorglos umzugehen – eine Verhaltensweise, die angesichts der Bevölkerungsentwicklung mittlerweile die Ökosysteme der Erde massiv bedroht: „Die Zahlen sind beängstigend, und die Prognosen klingen apokalyptisch. Es ist auch deshalb das größte Experiment der Menschheit, weil kaum etwas unserer Umwelt, der Natur und der Artenvielfalt letztlich derart zusetzt wie die enorme Zunahme der Zahl der Menschen.“ (S. 220) Eine Unkrautart sei der Mensch, so die wenig schmeichelnde Einschätzung des Autors. Sinkende Kindersterblichkeit und Bildungsmöglichkeiten für Frauen wären wichtige Schritte, um die Anzahl der Geburten zu reduzieren – und dies möglichst bald.

Das Verschwinden der Arten

Der umfangreichste Teil des Buches widmet sich dem Verschwinden der Arten, wobei Glaubrecht vor allem auf die vielen aufmerksam macht, die gerne vergessen werden: Insekten, Amphibien, „Allerweltsarten“ wie Sperling und Schwalben, verschiedenste Fischarten. „Defaunation nennen Wissenschaftler das inzwischen: ein globaler Artenschwund, der ebenso vielfältige Facetten wie Fälle hat – und der nicht ohne Folgen bleibt. Längst hat auf der ganzen Erde ein Massensterben eingesetzt; meist kaum realisiert, aber umso gefährlicher – letztlich auch für den Menschen.“ (S. 352f.) Der Autor kritisiert den Zeitgeist, wenn Milliarden in Weltraumforschung gesteckt werden, während man viel zu wenig über Arten und ihr Zusammenwirken in Ökosystemen weiß: „Von den angenommenen acht Millionen Arten weltweit sind nur für etwa 80 000 Arten überhaupt Daten zur basalen Ökologie, zu Vorkommen, Verbreitung und Bestand verfügbar.“ (S. 409)

Der UN-Biodiversitätsbericht geht davon aus, dass die Aussterbensrate heute zehn- bis hundertmal höher als in früheren Epochen ist. So seien seit 1900 die vorkommenden Arten um mindestens 20 Prozent zurückgegangen, mit unterschiedlichen Gewichtungen: „In Europa und Zentralasien sind derzeit nur 16 Prozent der an Land lebenden Arten als ‚nicht gefährdet‘ eingestuft. Dagegen sind mehr als 40 Prozent aller Amphibienarten (…) und 33 Prozent der riffbildenden Korallen sowie der Haie und Rochen im Meer vom Aussterben bedroht. Etwa 90 Prozent der Korallenriffe werden bis 2050 von einem massiven Rückgang ihrer Bewohner betroffen sein. Zusätzlich sind knapp ein Viertel aller Säugetiere sowie ein Fünftel aller Reptilien und Vögel gefährdet.“ (S. 419f.) Verantwortlich dafür sind Habitatsverlust, invasive Arten (oft durch den Menschen verbreitet), Übernutzung, Umweltverschmutzung, Bevölkerungswachstum. (vgl. S. 431) Glaubrecht thematisiert auch immer wieder das Zusammenwirken von sozialen und ökologischen Krisen: Die industrialisierte Ausrottung ganzer Arten, etwa durch den kommerziellen Fischfang, zerstört traditionelle Lebensweisen, was zu sozialen Verwerfungen führt.

Zwei mögliche Zukunftsszenarien

Das Buch endet mit zwei möglichen Zukunftsszenarien. In Szenario eins hat der „Pioniergeist“ der Menschheit gesiegt und die Erde bis ins Jahr 2062 in ein ökologisches und folglich soziales Desaster gestürzt. Im anderen ist es der Menschheit gelungen, Bevölkerungswachstum und Ressourcenverbrauch einzuhegen – vor allem durch internationale Solidarität mit dem globalen Süden und der strikten Durchsetzung von Schutzgebieten. Für dieses Szenario muss sich das öffentliche Bewusstsein mit Blick auf den Schutz unserer Arten so ändern, wie es in den letzten Jahren mit dem Klimawandel passiert ist, so der Autor.

Glaubrechts detailliertes und informatives Buch ist eine Mahnschrift gegen den menschlichen Raubzug gegenüber der Natur. Auch wenn der Autor sich mitunter in Details verliert und einen alarmistischen Grundton pflegt, bleibt Das Ende der Evolution immer gut lesbar, auch durch die vielen lebensnahen Beispiele. Teilweise fehlt es an Übersichtlichkeit im Hinblick auf die zahlreichen Zahlen, Studien und Berichte. Die eine oder andere Tabelle hätte geholfen, den Überblick zu behalten.