Angeblich leben wir in einer Wissensgesellschaft. OrganisationsberaterInnen behaupten es allenthalben und fordern daher seit mindestens drei Jahrzehnten lebenslanges Lernen ein. Die jährlich steigenden Wissensbestände führen ihrer Meinung nach dazu, dass das Überblickswissen abnimmt, während das Spezialwissen von ExpertInnen ebenso wie das Nichtwissen zu nehmen. Diese ExpertInnen stammen nun so gut wie ausschließlich aus dem universitären Feld. Sie haben sämtliche Bildungsinstitutionen durchlaufen, die ihnen eine leitende Position in der Forschung ermöglicht haben. In den Medien vermitteln gewöhnlich der Titel und der Name der Universität die Glaubwürdigkeit einer Person, die zu einer Problemlage befragt wird und den Laien erklärt, was sie denken und glauben sollen: über Politik, Wirtschaft, Umwelt, die Tier- und Pflanzenwelt oder die menschliche Psyche. Doch es ist bekannt, dass Wissen wie Unkraut wuchert und daher auch Früchte trägt, die nicht immer institutionell abgesegnet sind.
Der Buchautor Peter Finke hat zwar auch die übliche Universitätslaufbahn samt Karriere hinter sich, er ist aber ausgestiegen. Die Wissenschaft war ihm besonders in der neuen reformierten Gestalt, die in Bologna beschlossen wurde, inhaltlich zu selektiv. Finke fordert nämlich eine echte Wissensgesellschaft. Das heißt, Wissen sollte nicht nur von wenigen Eliten für ökonomisch profitable Zwecke generiert und angewandt werden, sondern zu einer umfassend gebildeten Gesellschaft führen. Genau das verhindern jedoch die elitären Institutionen und deren ExpertInnen, behauptet Finke. Denn dort erzeugen Konkurrenz und Karrierestreben – zusammen mit dem finanziellen Druck – sehr einseitige Formen des Wissens, die nicht dem Gemeinwohl dienen, sondern nur dem Profit. Andreas Dörpinghaus behauptete jüngst sogar, dass die Universität schlichtweg nur noch deren eigene Verwaltung sei. Gute innovative Forschung, so betont nun Finke, entstehe nur dort, wo die Forschenden – möglichst wenig eingeengt durch Bürokratie und Evaluierungsmaßnahmen – wirklich mit Leidenschaft gewissen Fragen nachgehen können. Dies sei heute aber im klassischen wissenschaftlichen Feld, wo Drittmittel der wichtigste Grund für Berufungen auf Lehrstühle darstellen, nicht mehr möglich. Dort habe sich eine Performancekultur durchgesetzt, die es erst gar nicht mehr wagt, Forschungsfragen zu stellen, die Gutachter irritieren könnten. Genau das sei aber notwendig.
Finke beschreibt in seinem Buch ausführlich, wie sehr die Wissenschaften ohnehin bisher schon von ehrenamtlichen ForscherInnen und deren oft lebenslang akribisch gesammelten Fakten und Daten profitieren. Dennoch werden Personen, die hauptberuflich meist andere Arbeiten verrichten, die ihnen dann Freiräume für ihre Leidenschaft lassen, nur als „HobbywissenschaftlerInnen“ bezeichnet. Dabei sind ihre Methoden keineswegs schlechter oder unzuverlässiger, jedoch unkonventioneller. Denn diese engagierten WissensbürgerInnen müssen sich nicht vor der Meinung von KollegInnen oder Fakultätsgremien fürchten. Sie müssen auch keine theoretischen Trends mitmachen oder sind von der Notwendigkeit frei, irgendetwas Herzeigbares für den Performance Record zu produzieren.
Beim Lesen des Buches könnte man fast annehmen, dass wahre Wissenschaft eigentlich nur noch außerhalb der universitären Institute stattfinden kann. Ganz so schlimm sieht es Finke aber doch nicht. Denn es gibt Wissenschaften, die auf teure Geräte und Labors angewiesen sind. Eine solche Forschung könnten nur sehr reiche Laien durchführen. Grundsätzlich aber will Finke mit seinem Buch darauf hinweisen, dass einerseits die so genannten ExpertInnen überschätzt werden, während andererseits die so genannten Laien zu wenig ernst genommen werden.
Rollen von WutbürgerInnen
Die Wissenschaftskommunikation findet zurzeit ausschließlich unter Profis statt und nimmt sich dadurch die Chance, einmal einen Blick auf die eigenen blinden Flecken zu erhaschen. Zudem räumt Finke mit dem Vorurteil auf, dass echte Wissenschaft emotionslos betrieben werden müsse. WutbürgerInnen seien oft viel effektiver als WissenschaftlerInnen, deren Leidenschaften in erster Linie der Karriere dienlich seien, ansonsten aber über den Dingen schwebten. WissensbürgerInnen forschen eher praxis- und anwendungsorientiert, sie wollen Probleme lösen, über die sie sich ärgern, weil sie sich eben nicht darüber erheben können. Die starke Problemorientierung und die fehlenden Ängste, disziplinäre Grenzen zu überschreiten, prädisponieren WissensbürgerInnen außerdem zu inter- und transdisziplinären Vorgangsweisen, welche an den Universitäten zwar gefordert, aber kaum je umgesetzt werden. Kurz und gut: Laut Finke haben klassische WissenschaftlerInnen wenig Grund so überheblich zu sein, wie sie es leider oft sind. Sie wissen nicht mehr, nur anders und können ihre habituelle Erstarrung offensichtlich zu wenig reflektieren.
Finke wünscht sich daher mehr Schnittstellen und Kommunikation zwischen Science und Citizen Science. Vereinigungen, Initiativen, Gruppierungen und Netzwerke sollten zwar gefördert werden, aber in ihren Entscheidungen frei bleiben. Die von der Citizen Science zu erwartende Korrekturkraft sollte helfen, die durch ökonomische und politische Einflussnahme erzeugte Machtorientierung in den Wissenschaften zu minimieren und so einen Kurswechsel in Richtung Wahrheit und Gemeinwohl zu bewirken. Finke setzt also große Hoffnungen darauf, dass Citizen Science einen längst nötigen Paradigmenwechseln bewirken könnte. Deshalb erscheint sein Buch aber leider auch als Utopie angesichts der Tatsache, dass derzeit weder in Deutschland noch in Österreich von einem demokratischen Bildungsangebot oder disziplinären Grenzöffnungen gesprochen werden kann.
Gabriele Sorgo
Finke, Peter: Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien. Mit einem Nachwort von Ervin Laszlo. München: oekom Verlag, 2014. 239 S., € 19,95 [D], 20,60 [A], sFr 27,90 ISBN 9-783865-814661