Elisabeth von Thadden

Berührungslose Gesellschaft

Ausgabe: 2019 | 3
Berührungslose Gesellschaft

Wie steht es um zwischenmenschliche Berührung? Ist die Digitalisierung eine Gefahr, berühren wir unsere Smartphones öfter und lieber als unsere Mitmenschen? Oder ermöglicht Videotelefonie eine neue Form der Nähe? Diesen und weiteren Fragen zum Thema Berührung stellt sich Elisabeth von Thadden und fasst sie in der vorliegenden Publikation zu einer wahren Forschungssammlung zusammen. Über Jahre sammelte sie Notizen und Auffälligkeiten zum Thema Berührung: im Straßenbild, in den Wissenschaften, den Medien, der Philosophie und Literatur. Die ZEIT-Radakteurin gliedert das Buch nach vier Sphären des gesellschaftlichen Wandels, wobei sie es aber vermeidet, einen roten Faden zu betonen, denn weltweit sind die modernen Gesellschaften aus vielfältigen Fäden gewoben, der Weg zu körperlicher Unversehrtheit ist nicht singulär und keineswegs geradlinig.

Als erste Sphäre untersucht die Autorin mithilfe eines Tastsinnexperten die direkte physische Berührung der menschlichen Haut; daraufhin beleuchtet sie die rechtlich-politische Sphäre, wobei es um die Rechte auf körperliche Unversehrtheit geht; im dritten Kapitel zeigt sie, warum in Europa das Leben mit mehr räumlichem Abstand möglich wurde. Als vierte Sphäre benennt sie die heute besonders dringliche Frage nach dem verletzbaren Körper, wo dieser selbst zum Marktwert geworden ist. Die Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosa, mit welchem von Thadden selbst in regem Dialog stand, findet in diesem Schlusskapitel ihren wirkmächtigen Auftritt, dem sie aber auch etwas hinzuzufügen weiß: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das in der Moderne von Beginn an umkämpft ist, sei nicht allein ein Instrument, sich die Welt, wie in Rosas Verständnis, verfügbar zu machen, sondern zugleich eine Antwort auf Leid, indem es als Idee dessen Verwerflichkeit erst benennbar und dessen rechtliche Ahndung möglich mache.

Wie sich Berührung in unserer Gesellschaft in Zukunft gestalten wird, ist offen: wird sie von angstloser Zugewandtheit oder misstrauischem Kontrollverlangen bestimmt sein? Das Buch zeigt, wie wenig selbstverständlich es ist, dass sich selbstbestimmte Berührung auf dem Vormarsch befindet. Eine Rückkehr von unfreiwilliger und gewalttätiger Berührung ist ebenso möglich.

Die Autorin bewegt sich in ihrer Betrachtung stets entlang aktueller Debatten, schaut sich Songtexte, Bestseller und Filmthemen an, die von der gesellschaftlichen Stimmung erzählen, und lässt Differenzen und Ähnlichkeiten aufscheinen zu anderen Zeiten, indem sie beispielsweise Goethe heranzieht. Die Lektüre ist dabei kurzweilig und die vielen Fußnoten laden zu weiterer Forschung ein, erschweren aber mitunter auch den Lesefluss.

In Goethes Werk ist das Bild des Eislaufs immer wieder präsent; für von Thadden stellt es die Bewegtheit der Berührung perfekt dar: Der Eislauf ist „die Verkörperung berührungsloser Berührung von Menschen, die zueinander wollen, weil sie nur miteinander Bewegung, Begegnung und Bild sind“ (S. 158). Das Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach und der Angst vor Berührung offenbart sich hier bildhaft als Tanz auf dünnem Eis, zu dem wir immer wieder aufs Neue aufgefordert sind.