Autonomie verteidigen

Ausgabe: 2015 | 2

Es sind Beispiele, die viele schon kennen. Warum haben sich beim Polizeibataillon 101 so viele Männer an Erschießungen beteiligt, obwohl es ihnen freigestellt war, daran nicht teilzunehmen? Das Reservepolizeibataillon 101 hatte im Zweiten Weltkrieg „ordnungspolitische Aufgaben“. Hundertausende jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden ermordet. Nur 12 von 488 beteiligten sich nicht an den Erschießungen.

Michael Pauen und Harald Welzer fragen in ihrem Buch „Autonomie. Eine Verteidigung“, warum diese hohe Beteiligung an den Morden zustande kam. Nationalsozialistische Denkmuster waren nicht ausschlaggebend, auch Nicht-Nationalsozialisten hatten sich überdurchschnittlich beteiligt. Die zwölf, die sich nicht beteiligten, erfuhren tatsächlich keine negativen Konsequenzen. Pauen und Welzer spüren nach und rücken den Begriff des „Referenzrahmens“ in den Mittelpunkt. „Unter den Normalbedingungen des zivilen Alltags bilden Gewalttäter und Mörder eine verschwindend kleine Minderheit. Die Mehrheit verhält sich im Referenzrahmen des zivilen Alltags konform, also friedlich und gewaltabstinent. Unter den Bedingungen von Krieg und Gewaltherrschaft verschiebt sich der Referenzrahmen – hier wird Gewalthandeln unter Gruppenbedingungen zum konformen Verhalten, die Weigerung zu töten wird zum abweichenden Verhalten.“ (S. 132).

Damit und anhand vieler anderer Beispiele wollen Pauen und Welzer zeigen, wie wichtig die Fähigkeit der Menschen ist, sich unabhängig von einem Referenzrahmen zu behaupten. Autonomie ist die Fähigkeit, unabhängige Werte zu setzen und vor allem, sie gegen Widerstände durchzusetzen.

Leider sei diese Autonomie in unserer Zeit unter Druck. Und zwar von vielen Seiten. Da wäre der externe Konformitätsdruck, der uns Dinge tun lässt, die sicher nicht auf unserem eigenen Mist gewachsen sind. Aber Autonomie wird auch in Frage gestellt, wenn eine Person gar keine Wünsche und Überzeugungen mehr hat. Und der Mensch wird „auswirkungslos“, wenn er nicht imstande ist, Widerstände zu überwinden.

Die Autoren grenzen Autonomie auch von Willensfreiheit ab. Freiheit ist für sie eine Eigenschaft von einzelnen Handlungen, Autonomie eine Eigenschaft von Personen. Autonome Menschen leben nicht nur ihr eigenes Leben, sie heben auch die Qualität von Gruppenentscheidungen. Experimente zeigten, dass Konformitätsdruck die Fehlererkennung massiv erschwert. Wenn bei einer Abfrage nach einer mathematischen Lösung die ersten vier Personen vorsätzlich eine falsche Antwort geben, ist es wahrscheinlich, dass auch die weiteren wider eigene Annahmen, die falsche Antwort wiederholen.

Das Buch schließt mit Vorschlägen, wie man seine eigene Autonomie verteidigen kann. Nummer elf lautet: Demokratie bedarf der ständigen Übung in Autonomie.

Pauen, Michael; Welzer, Harald: Autonomie. Eine Verteidigung. Frankfurt: S. Fischer, 2015. 422 S., € 19,99 [D], 20,60 [A] ISBN 978-3-10-002250-9