Robert Sapolsky

Gewalt und Mitgefühl

Ausgabe: 2018 | 1
Gewalt und Mitgefühl

Robert Sapolsky, hauptsächlich Primatologe und Neurobiologe, hat sich schon lange auch außerhalb des Universitätsbereichs einen Namen als Wissenschaftsautor gemacht. „Mitgefühl und Gewalt. Die Biologie des menschlichen Verhaltens“ ist nun seine neueste Publikation. Hier schreibt der amerikanische Universitätsprofessor über Gewalt, Aggression und Konkurrenz, schlüsselt die multiplen Bezüge der zugrundeliegenden Verhaltensweisen und Impulse auf. Und er zeigt auch, was die Biologie über Zugehörigkeit, Kooperation, Versöhnung, Empathie und Altruismus lehrt. Zehn Jahre forschte und schrieb er für dieses beeindruckende Werk, das auf gut 1000 Seiten mit Fakten, Wissen und profunder Analyse überreich gefüllt ist. Gepaart mit dem ihm eigenen humoristischen Schreibstil liefert Sapolsky einen hochinteressanten, amüsanten Wälzer, den er selbst mit folgenden Worten zusammenfasst: „Es ist kompliziert.“ (S. 865)

Um das Sozialverhalten der Menschen in seiner Komplexität zu fassen – „Und da stehen wir wirklich vor einem fürchterlichen Durcheinander aus Neurochemie, Hormonen, Sinnesreizen, pränataler Umgebung, Früherfahrung, Genen, biologischer und kultureller Evolution, Umweltdruck und vielem mehr.“ (S. 14) – betont Sapolsky die Notwendigkeit der Interdisziplinarität, denn ein multifaktorielles Phänomen darf nicht nur aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden. Indem er strukturiert den zu einer Tat führenden Zeitstrang zurückgeht, entwickelt Sapolsky eine verhaltenstechnische Erklärungstheorie, die mit einem neurobiologischen Ansatz beginnt und mit der Evolution des Verhaltens schließt: Was war nur eine Sekunde vor einer Tat? Welche Umwelteinflüsse musste das Nervensystem Sekunden bis Minuten zuvor verarbeiten? Welchen Einfluss hatten Hormone in den Stunden und Tagen zuvor? Was passierte vor Wochen, Monaten, Jahre, Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrmillionen?

So durchschreitet Sapolsky also alle sich bedingenden und durchdringende Fachrichtungen und konzipiert ein Gesamtbild, das unter anderem Wir/Sie-Dichotomien, hierarchische Strukturen, religiöse Empfindungen und Moralvorstellungen integriert. Auch auf politische Einstellungen wird verwiesen, als Manifestation des intellektuellen und emotionalen Stils: „Wenn Sie wirklich die politische Haltung eines Menschen verstehen wollen, dann setzen Sie sich mit seinen kognitiven Bedingungen auseinander – wie groß seine Neigung zu schnellen Urteilen ist, wie er neue Bewertungen vornimmt und kognitive Dissonanzen löst. Noch wichtiger: Welche Gefühle hegt er gegenüber Neuem, Uneindeutigkeit, Empathie, Hygiene, Krankheit und Unbehagen? Ist er der Meinung, dass früher alles besser war, und macht ihm die Zukunft Angst?“ (S. 616f.) Immer betont der Autor dabei, dass seine Aussagen für den Durchschnitt gelten, immer weist er auf die Bedeutung von Kontext, Veränderungspotenzial und die Gefahr vorschnellen Urteilens hin. Jedem, der ein allumfassendes Verständnis für das Verhalten von Individuen, Gruppen oder Staaten entwickeln möchte, ist dieses Buch zu empfehlen.