Jean-Claude Michéa macht sich Gedanken über den Liberalismus. Dabei liegt ihm vor allem ein Argument am Herzen. Das Eintreten für individuelle Freiheit sei nicht vom Eintreten für wirtschaftliche Freiheit zu trennen. Um das Argument zu untermauern, zieht Michéa wichtige Werke der liberalen Ideengeschichte heran und skizziert, wie wirtschaftliche Freiheit immer auch als Voraussetzung für bürgerliche Freiheiten diente.
Eine entscheidende Wurzel des Liberalismus seien die Konsequenzen einer veränderten Kriegsführung gewesen. Die Erfindung bis dahin unbekannter Waffen und die entsprechenden taktischen oder strategischen Errungenschaften verliehen den gewalttätigen Auseinandersetzungen im 16. und 17. Jahrhundert einen weitaus mörderischeren und zerstörerischen Charakter als zuvor. Auch ideologisch wurde der Krieg nun anders begründet, so Michéa, nämlich als Bürgerkrieg mit seiner damaligen Hauptform, des Religionskrieges. Bürgerkriege führen zu Zerrüttungen und Spannungen in Gesellschaften im Unterschied zu Kriegen zwischen Territorialgebilden, wodurch Gesellschaften angesichts eines gemeinsamen Feindes teilweise zusammengeschweißt würden, meint Michéa. Er formuliert es so: Die Spaltungen der Gesellschaft bringen Nachbarn und Verwandte gegeneinander auf, es drohen die auf dem „Kreislauf von Gabe und Gegengabe bestehenden reziproken Verantwortlichkeiten und traditionellen Treueverhältnisse“ zu brechen (S. 25). Es verwundert nicht, dass Angst vor dem gewaltsamen Tod, Argwohn gegenüber den Angehörigen, Ablehnung sämtlicher ideologischer Fanatismen und Verlangen nach einem endlich ruhigen Leben, sowie danach, den Krieg hinter sich zu lassen, wichtiger werden. Michéa meint, dass das Fortschrittsideal der Moderne deswegen auch nicht als Anstreben einer Utopie verstanden werden sollte, sondern als eine Wegbewegung vom Krieg. (S. 28)
Michéa kontrastiert Werthaltungen: Das eigene Leben zu opfern sei die höchste Tugend traditioneller Gesellschaften gewesen. Die Moderne setzt ganz andere Prioritäten: Die Rechte des individuellen Menschen, seine Unversehrtheit, seine Freiheit und seine physische Integrität rücken ins Zentrum. Michéa konkretisiert mit Benjamin Constant, der ihn in seiner Argumentation an vielen Stellen begleitet: „Das Ziel der Modernen ist die Sicherheit in den privaten Genüssen, und Freiheit nennen sie den gesetzlichen Schutz dieser Genüsse.“ (S. 29)
Als Ursachen der Kriege werden Ruhmsucht der Großen und der Anspruch der Menschen, im Besitz der Wahrheit über das Gute zu sein, genannt. Diesen Ansprüchen stelle sich der Liberalismus entgegen. Der Staat müsse philosophisch neutral sein. Und er dürfe den Individuen keine bestimmte Auffassung vom guten Leben aufzwingen. Nach Ansicht der Liberalen sei also der Staat der gerechteste, „der nicht denkt“ (S. 35).
Wie aber sorgt der Staat, der alle neutral behandelt, dafür, dass die Gesellschaft, in der er wirkt, auch gerecht ist? Wie kann dann eine unanständige Verteilung von Reichtum, Chancen und Genuss verhindert werden? Michéa zitiert hier Frédéric Bastiat, der diese sozialistische Frage an den Liberalismus zu beantworten versuchte. Er bestritt nicht die Ungerechtigkeit. Er trat für die Reduzierung der Ungleichheit ein. Er argumentierte aber, dass die Einführung von staatlichen Pflichten jede Brüderlichkeit/Solidarität vereitele, indem sie in der Gesetzgebung Pflichten verankern wolle, die sich die Individuen ausschließlich selbst auferlegen können. Werden diese Pflichten durchgesetzt, würde dies unweigerlich zu Schreckensherrschaft und allgemeinem Elend führen. (S. 45)
Wie aber ist anzunehmen, dass eine Gesellschaft von sich aus diese Gerechtigkeit herstellen kann? Michéa erinnert an Adam Smiths „unsichtbare Hand“. Die Befreiung der Möglichkeiten für den wirtschaftlichen Handel werde zu einer gerechten Verteilung führen. Michéa zitiert Meric Crucés Aussage von 1623: „Kein Beruf ist so von Nutzen, wie der des Kaufmannes, der auf Kosten seiner Arbeit, und oft unter Lebensgefahr rechtmäßig seine Mittel mehrt, ohne einen anderen zu schädigen oder zu beleidigen: darin ist er lobenswerter als der Soldat, dessen Vorankommen lediglich von den sterblichen Überresten und Ruinen eines anderen abhängt.“ (S. 51).
Die zitierten Kernideen Michéas werden in dem Aufsatz „Die Einheit des Liberalismus“ zusammengefasst, der am Beginn des Buches zu finden ist. Insgesamt werden in dem Band sieben Texte Michéas zugänglich gemacht. In deutscher Sprache liegt damit eine Interpretation des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus vor, die diesen interessant und nachvollziehbar als Anti-Kriegs-Denken der frühen Neuzeit präsentiert.
Michéa, Jean-Claude: Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft. Berlin: Matthes und Seitz, 2014. 191 S., € 19,90 [D], 20,50 [A] ISBN 978-3-95757-015-4