Nationalismus als leeres Versprechen

Ausgabe: 2018 | 1
Nationalismus als leeres Versprechen

Thorsten Mense und theorie.org über NationalismusIn den meisten Fällen des aktuellen Rechtspopulismus erkennen wir die rhetorische Gegenüberstellung eines „Wir“ und der „Anderen“. Um dieses Konstrukt argumentativ halten zu können, muss „Wir“ in einer Form definiert werden, die anschlussfähig ist. In aller Regel wird dann auf das Volk oder die Nation verwiesen. Der Nationalismus erlebt eine Renaissance.

Thorsten Mense hat in seinem ausgezeichneten Buch zur „Kritik des Nationalismus“ die wichtigsten Überlegungen über den Nationalismus zusammengetragen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Soziologe Max Weber in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ die essentialistischen Vorstellungen von Nation, Volk und Ethnie kritisiert. Es gebe keine haltbaren Kriterien zur Bestimmung dieser vermeintlich natürlichen Einheiten, so Weber, der die Kollektivbezeichnungen folgerichtig unterAnführungsszeichen setzte. Das einzig Objektive an ihnen sei der subjektive Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft, auf dem sich alle diese kollektiven Identitäten gründeten.

An dieser Erkenntnis setzten später andere wie Benedict Anderson, Eric Hobsbawn und Ernest Gellner an. Die Ergebnisse dieser Forschung fasst Mense zusammen: „Die Nation ist ein Produkt der Moderne. Die Vorstellung der modernen Nation entwickelte sich erst ab dem Ende des 18. Jahrhunderts im Rahmen der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Die Idee entstand im Übergang zur Moderne in enger Verbindung mit Industrialisierung, Säkularisierung und der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise.

Die Nation ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Nation ist keine objektiv bestimmbare Gemeinschaft, sondern eine bestimmte Vorstellung einer spezifischen sozialen Ordnung und eine Kategorie kollektiver Subjektivität. Nation ist ein Produkt des Nationalismus.” (S. 17)

Mense übernimmt diese Erkenntnisse, meint aber, dass sie die fortwährende Bedeutung des Nationalismus sowohl als Ordnungsprinzip als auch als Bewusstseinsform nicht hinreichend erklären würden. Eine der Ursachen für die fehlende Reichweite der kritischen Nationalismustheorien liege in der Nichtbeachtung der subjektiven Seite des Nationalismus. Die Nation kommt von den Nationalisten, woher kommen aber diese? (S. 22) Vier Hinweise werden gegeben.

Erstens: Das Denken in nationalen Kategorien hat sich versteinert. Es handelt sich um eine Denkform, eine spezifische moderne Art und Weise die Welt zu sehen, um sich und andere in ihr zu verorten. Es sei nicht einfach, die Welt nicht national zu betrachten.

Zweitens: Außerhalb der Nationen zu stehen, ist heute noch immer unpraktisch. Auch Hannah Arendt habe mit Verweis auf staatenlose Flüchtlinge in der Zwischenkriegszeit betont, dass die nationale Gemeinschaft stets besseren Schutz geboten habe als die bloße Eigenschaft, Mensch zu sein (S. 92). Es gehe darum, zu einer Gruppe zu gehören, und es sei seit dem 19. Jahrhundert die Nation, die einem ein Existenzrecht verbürge, die mehr oder weniger deutlich sagt, „du hast ein Recht hier zu leben“ (Birgit Rommelspacher).

Drittens: Die Ambivalenz des Begriffs ermöglicht vielen den Anschluss. Der Appell an die „Nation“ könne emanzipatorisch und demokratisch genauso auftreten wie autoritär und undemokratisch. Der Terminus  könne eine Integrations- genauso wie eine Ausgrenzungsideologie sein.

Viertens: „Die hohle Phrase nationaler Identität beutet die Sehnsucht der Menschen nach Geborgenheit in einer bedrohlichen Welt aus, die Parole von nationaler Identität spielt die Sicherheit falscher Gefühle gegen die Unsicherheit einer widersprüchlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit aus“, so Detlev Claussen, den Mense hier einbringt.

Sein Fazit: „Der ungebrochene Erfolg des Nationalismus liegt in seiner Fähigkeit, in ganz verschiedenen Situationen für Menschen unterschiedlicher Schichten als Projektionsfläche ihrer Bedürfnisse, Hoffnungen und Ängste sowie als Ausdruck ihrer partikularen Interessen dienen zu können.“ (S. 186) Die Motivationen, sich mit der Nation zu identifizieren und für sie zu kämpfen, sind selbst innerhalb einer Nation diffus bis gegensätzlich, werden jedoch als ein und dasselbe Interesse, das Interesse der Nation wahrgenommen.

Für Mense ist auch dies ein Hinweis darauf, dass die Nation im Kern ein Versprechen ist, das nicht eingelöst wird. Die Nation hebt Widersprüche nicht auf, sie verdeckt diese. „Eine kritische Theorie des Nationalismus gründet daher auf der Erkenntnis, dass das mit der Nation historisch verbundene liberale Versprechen von Freiheit und Gleichheit real nie eingelöst wurde und dass die Ursache für dieses Versagen in der Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft selbst liegt.“ (S. 199) Es gehe daher darum, die Verhältnisse so einzurichten, dass die Notwendigkeit nationaler Identifikation überflüssig wird. Stefan Wally

 

Bei Amazon kaufenMense, Thorsten: Kritik des Nationalismus. Stuttgart: Schmetterling Verl., 2016. 214 S., € 10,- [D], 10,30 [A] ; ISBN 9-89657-685-2