Der Sammelband „Die große Regression – Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit“ versammelt 15 Einschätzungen von international bekannten WissenschafterInnen und PublizistInnen zu gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich zurzeit in vielen Teilen der Welt vollziehen. Bereits der Titel verrät, dass die in diesem Buch versammelten Beiträge keine „rosigen“ Aussichten versprechen. So konstatiert der Herausgeber Heinrich Geiselberger bereits im Vorwort, der Begriff der „großen Regression“ solle verdeutlichen, dass in vielen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären „Sperrklinkeneffekte außer Kraft gesetzt scheinen und wir Zeugen eines Zurückfallens hinter ein für unhintergehbar erachtetes Niveau der ‚Zivilisiertheit‘ werden“ (S. 9). Hier sollen einige Aspekte der skizzierten regressiven Tendenzen wiedergegeben werden.
Arjun Appadurai, Slavoj Ziek und Robert Misik
In fast allen Beiträgen werden der Rechtsruck, regressive und fremdenfeindliche Tendenzen in vielen Teilen innerhalb und außerhalb Europas angesprochen und analysiert, die sich u. a. über den weit verbreiteten Populismus äußern bzw. durch diesen weiter angeheizt werden. Arjun Appadurai bringt diese Entwicklungen vor allem mit dem durch die Globalisierung bedingten geringer werdenden politischen und ökonomischen Handlungsspielraum vieler Staaten in Zusammenhang, der in vielen Ländern durch xenophobe Politik „kaschiert“ und durch die „Demokratiemüdigkeit“ vieler BürgerInnen bestärkt wird. Slavoj Zizek warnt hingegen davor, die Bevölkerung zu sehr in die Pflicht zu nehmen. Er warnt vor Urteilen, dass die WählerInnen der Rechten naiv oder gar dumm seien. Es sollte vielmehr erkannt werden, dass das Wahlverhalten Ausdruck „für die Schwäche der hegemonialen liberalen Ideologie“ (S. 302) ist, die keinen gesellschaftlichen Konsens mehr herstellen kann. Auch ein linker Populismus, der naiv zwischen „wir“ und die „anderen“ trennt, ist für Zizek keine gangbare Strategie. Robert Misik sieht eine zentrale Ursache für die Schwäche linker Politik in der zunehmenden Spaltung zwischen urbanen, liberalen Schichten und die ArbeiterInnen. Die gegenseige Abgrenzung und Verachtung dieser Populationen macht es für linke Parteien schwer, in beiden WählerInnensegmenten zu punkten.
Oliver Nachtwey, Donatella della Porta und Nancy Fraser
Seitdem sich die wirtschaftlichen Dynamik und Kapitalakkumulation ab den 1980er Jahren grundlegend verändert hat, werden – so konstatiert Oliver Nachtwey in seinem Aufsatz – bestimmte Gruppen, z.B. breite Teile der Mittel- und Arbeiterklassen, systematisch benachteiligt. Die dadurch entstehenden Kränkungen brechen sich durch negative Affekte und entsprechende Wahlergebnisse bahn. Für Donatella della Porta greift der Hinweis auf die „Globalisierungsverlierer“ zu kurz. Laut Autorin muss der Blick auch auf die Verbindungen rechter Parteien mit mächtigen Wirtschaftsbetrieben und Think Tanks, sowie auf das „Wesen“ des Populismus gerichtet werden, der versucht Menschen durch das „Führerprinzip“ von „oben nach unten“ zu mobilisieren. Des Weiteren muss zur Kenntnis genommen werden, dass die neoliberale Politik, die weitgehend als zentraler Erklärungsfaktor für die regressiven Tendenzen betrachtet wird, von liberalen und auch linken Parteien aktiv oder passiv mitgetragen wurde. Letzteres diagnostiziert Nancy Fraser in ähnlicher Weise für die USA: Trump liefen vor allem ArbeiterInnen aufgrund der „Komplizenschaft“ von progressiven Strömungen, z.B. im Bereich der Anti-Rassismus-Politik, mit neoliberalen Inhalten und Standpunkten in die Arme. Hillary Clinton wurde dadurch und durch ihren sehr moralisierenden Wahlkampf zunehmend unglaubwürdiger.
Ivan Krastev, Pankaj Mishra und Eva Illouz
Ivan Krastev postuliert, dass nach dem Ende des Kalten Krieges das Zeitalter der Identitätspolitik wiederkehrte. Die damit entstandenen ethnischen und religiösen Spannungen werden außerdem durch weitere Entwicklungen bestärkt – wie durch die Individualisierung und die Erosion sozialer Bindungen, durch Fluchtbewegungen und durch eine wahrgenommene Erosion der bestehenden normativen Ordnung. Paul Mason betrachtet in seinem Beitrag vor allem die Situation und den Niedergang des Neoliberalismus in England. Nachdem die Globalisierung und die neoliberale Politik seit Margaret Thatcher die Grundlagen der englischen Arbeiterklasse nach und nach zerstörte, zettelte eben diese Klasse unter dem Druck der Finanzkrise ab 2008 eine „Revolte“ an, die zu einer zunehmenden Ablehnung gegenüber Zuwanderung und zu Rassismus und schließlich zum „Brexit“ führte. Für Pankaj Mishra ist es u.a. der von der Ideologie des Liberalismus niemals eingeholte Anspruch auf Freiheit und Gleichheit, der Ressentiments gegenüber der vorherrschenden Wirtschaftsordnung schürt. Eva Illouz beschäftigt sich mit dem Rechtsruck in Israel: eine Ursache für die regressiven Tendenzen sei in den Strukturen des Staates Israels zu suchen, die in der Vergangenheit religiösen und auch fundamentalistischen Strömungen zu viel Raum gelassen haben. Außerdem wurden laut Illouz jene Jüdinnen und Juden, die ursprünglich aus arabischen Ländern einreisten, zu verlässlichen Rechts-WählerInnen, da sie lange diskriminiert wurden.
César Rendueles, Wolfgang Streeck und Zygmunt Bauman
César Rendueles ortet einige blinde Flecken in der Analyse vieler WissenschafterInnen. So werden die Konsequenzen der Verwerfungen der letzten Jahre zu „ethnozentristisch“ wahrgenommen. Global betrachtet ist die Krise für die meisten Menschen historische Normalität. Entgegen der Annahme vieler, dass der Neoliberalismus am Ende sei, konstatiert der Autor außerdem, dass dieser aus der Krise gestärkt hervorging; z.B. indem beispielsweise Krisensituationen dazu genutzt wurden, die Rechte zu stärken und die Verhandlungsmacht der ArbeiterInnen immer weiter einzuschränken. Wolfgang Streeck vermutet hingegen, dass wir uns derzeit in einem „Interregnum“ befinden, „eine Zeit von unbestimmter Dauer, in der eine alte Ordnung schon zerbrochen ist, eine neue aber noch nicht entstehen kann“ (S. 265). D.h., die weitere Entwicklung ist ungewiss, obwohl viele Zeichen darauf hindeuten, dass vielerorts ein „antielitärer Nationalismus von unten“ (S. 271) entsteht und auch von linker Seite provoziert wird. Zygmunt Bauman konstatiert in seiner Analyse zum Thema „Migration“, dass die erwartete Verpflichtung zu einem kosmopolitischen Bewusstsein Ressentiments oftmals zusätzlich verstärkt. Ein solidarischer Zusammenschluss aller Menschen erscheint mit zu vielen Hürden behaftet und damit aussichtslos zu sein. Vielmehr lautet die derzeitige Antwort auf die Verpflichtung des Kosmopolitismus: „klein, aber mein“ (S. 51).
Die mit diesem Sammelband initiierte Diskussion über die regressiven Tendenzen in weiten Teilen unserer Welt hält an und ist – wenig überraschend – noch nicht abgeschlossen. Unter der Internetadresse „www.diegrosseregression.de“ gibt es weiteres Material, u.a. einige Videoclips, zum Buch und zur Debatte.