Historisch-demographische Studien zur Lebenserwartung

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Innerhalb der letzten vierhundert Jahre hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa mehr als verdoppelt. An die Stelle von "Pest, Hunger und Krieg", der die Menschen vor allem durch die ihn begleitenden Seuchen dezimierte, sind Erkrankungen des Kreislaufsystems und der Atmungsorgane als erste Todesursachen getreten. Dank medizinischer Erkenntnisse ist die biologische Existenzsicherung derzeit bis in das hohe Alter gewährleistet. Dennoch leben wir nicht im Paradies. An die Stelle alter Probleme sind neue getreten. Der schnelle, unerwartete Tod hat vielfach jahrelangem Siechtum Platz gemacht, die Sorge um die Überbevölkerung ist der Überalterung der Industriegesellschaft gewichen.

An zwei Beispielen - der BRD und Japan - skizziert der Autor soziale Folgen dieser Entwicklung und fordert vor allem eine geänderte Einstellung gegenüber älteren Menschen. Veränderungen der Familienstruktur, in der sich das Konfliktrisiko gegenüber früheren Zeiten deutlich erhöht hat, sowie die Tendenz zur ,Vereinzelung sind weitere Phänomene, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind. Die Einsicht, daß "ein biologisch gesichertes langes Leben noch keineswegs gleichbedeutend mit einem erfüllten langen Leben ist", macht den Blick frei für andere Gesellschaften, die wir für entwicklungsbedürftig halten, ohne meist zu sehen, daß beide Seiten voneinander lernen könnten.

Der Widersprüchlichkeit Brasiliens geht der Autor in zwei Beiträgen nach. Triste sanitäre Verhältnisse und in deren Folge eine hohe Säuglingssterblichkeit findet man neben sozialen Tendenzen, die wir aus der ersten Welt kennen. Während vielfach die Auflösung ehemals gemeinschaftsstiftender Strukturen, ein Verlust der Rollenidentität auf Kosten wachsender Individualität und Lebenszeit beobachtet werden kann, ist das soziale Dilemma von Armut - Arbeit - und mangelhafter Ausbildung in weiten Teilen des Landes von der Größe Europas ungelöst. Im Blick auf die Ureinwohner Neuseelands und Australiens stellt Imhof die Frage nach dem Wert herkömmlicher Entwicklungspolitik. ,Wenn man bedenkt, daß das Todesrisiko eines 40jährigen australischen Ureinwohners 18mal höher ist als das eines deutschen Bürgers, liegt es nahe, die Gesundheitsvorsorge entscheidend zu verbessern. Die von uns gesetzten Richtlinien an Nahrung, Kleidung und Hygiene zerstören jedoch die kulturelle Identität einer Gesellschaft, die rund 40.000 Jahre erfolgreich hinter sich gebracht hat.

Angesichts der sozioökologischen Krisen unserer Gesellschaft zeigt sich das "Projekt Moderne" bei weitem anfälliger. Daß unser Lebensprogramm nicht jenes anderer Gesellschaften sein muß, und diese auf ihre Weise auf unser Angebot reagieren, legt Imhof in folgender These dar: "Medizinische Interventionen vermochten die Säuglings- und Kindersterblichkeit der Aborigines und Maoris auf ein ,modernes Maß' zu drücken. Erreichen diese dann jedoch das Erwachsenenalter und nehmen wahr, was ihnen geschah und wie ihnen noch immer geschieht, wollen viele nicht länger und geben auf, geben sich auf, in den besten Jahren. "

Die Zeitschrift "Das Parlament" beschäftigt sich in ihrer Ausgabe vom 5. 8. 1988 ausführlich mit Problemen und Perspektiven der älteren Generation in der BRD. U. a. wird über die Arbeit von Selbsthilfegruppen, Erfahrungen im Umgang mit alten Menschen, deren politische Macht sowie die besondere Bedeutung dieses Lebensabschnitts für Frauen berichtet. Ein Vergleich mit der Situation der Senioren in· Norwegen und Österreich runden das Bild ab.

Imhof, Arthur E.: Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Fünf historisch-demographische Studien. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1988.274 S. DM 31,60/ sfr 26,80 / öS 247,-