Demografie und Demokratie

Ausgabe: 2013 | 1

Die Bevölkerungsdynamik hat Auswirkungen auf nahezu alle Politikbereiche und wird umgekehrt von diesen beeinflusst. Die demografische Entwicklung muss deshalb als sozialer Wandel akzeptiert werden. Dabei handelt es sich um das Zusammenwirken von Geburtenrückgang, Wanderungsbewegungen und Langlebigkeit der Bevölkerung. Nach Überzeugung der AutorInnen des Bandes „Demokratie und Demographie“ ist diese Entwicklung demokratisch gestaltbar, „ohne die Grundlagen des Wohlfahrtsstaates zu zerstören“ (S. 128). Dazu bedarf es aber einer aktiven politischen Gestaltung, denn der Wohlfahrtsstaat sei finanziell zu erschöpft, um die sozialen Verteilungskonflikte fiskalisch und haushaltstechnisch kompensieren zu können.

Neue Generationengerechtigkeit

Entscheidungen in diese Richtung werden aber nur dann allgemeine Akzeptanz finden, wenn alle Betroffenen als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger beteiligt sind, so die Autoren. „Für die Lösung der mit dem demografischen Wandel einhergehenden Wohlstandskonflikte ist (jedenfalls) eine Ausweitung der demokratischen Teilhabe notwendig.“ (S. 130). Gefordert wird auch eine Verankerung der Generationengerechtigkeit im Grundgesetz. Zudem müssten die gesellschaftlichen Leistungen von Familien transparent gemacht und sozialpolitisch gewürdigt werden. Konfliktpotenzial liegt auch in prekären Arbeitsverhältnissen durch Altersdiskriminierung. Längst sei eine demografisch verursachte Exklusion von  Menschen und Personengruppen sowie ganzer Gemeinden und Regionen im Gange, weil der demokratische Wohlfahrtsstaat seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen kann. „Im demokratischen Prozess ist zumindest über das unabdingbare Minimum an sozialer und infrastruktureller Teilhabe zu entscheiden, auf deren Grundlage sich die soziale, wirtschaftliche und territoriale Kohäsion der schrumpfenden Bundesrepublik durchaus sehr unterschiedlich ausdifferenzieren kann.“ (S. 132) Zweifellos stellt der Bevölkerungsrückgang die eingeübten Muster der sozialen und territorialen Integration über Infrastrukturen auf eine harte Probe. Die Absicherung in Alter, Krankheit und Not zerbricht unter den Bedingungen von Finanzkrise, leeren öffentlichen Kassen und demografischem Wandel. Deshalb muss eine demokratische Verfassung auch die Frage nach der Ordnung und Verteilung von Infrastrukturen thematisieren.

Neujustierung der Daseinsvorsorge

Insgesamt sei nach vorliegender Bewertung eine Neujustierung der Daseinsvorsorge vorzunehmen, was wiederum eine differenzierte Verantwortungsteilung und Leistungserbringung zwischen Staat, Markt und Bürgern erfordere. Als Beispiel werden etwa der Erhalt liniengeführter Busse oder die individuelle öffentliche Mobilität genannt. Die Lösung jedenfalls könne nicht im infrastrukturellen Rückzug aus den sozialstrukturellen Wirklichkeiten der Städte und Kommunen, in der Schließung oder Reduzierung von Schulen und Behörden liegen. Gegen den Fatalismus des Geschehenlassens, gegen die allmähliche Erosion demokratischer, auf Ausgleich und Teilhabe zielender Strukturen und Lebenswirklichkeiten wählen Kersten/Neu/Vogel den Begriff der „Lichtung“ für die aktuelle und weitere Entwicklung des Sozialgefüges und der Wohlfahrtsstrukturen, der gleichermaßen auf Verluste und Freiräume verweist (vgl. S. 137). Die politische Lösungsformel des „Immer mehr“ müsse, so die Einschätzung, nun auf die politische Agenda ebenso wie die Verantwortlichkeit für öffentliche Ressourcen und Gemeingüter und die Verteilungsfragen in Zeiten der Schrumpfung und Verknappung. Dies bedeute aber gleichzeitig die Bereitschaft zum Konflikt, so die zentrale Schlussßfolgerung. A. A.  

 

 Kersten, Jens ; Neu, Claudia ; Vogel, Berthold: Demografie und Demokratie. Zur Politisierung des Wohlfahrtsstaates. Hamburg: Hamburger Edition, 2012. 151 S., € 12,- [D], 12,40 [A], sFr 16,80 ISBN 978-38684-253-0