Strukturwandel und Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat

Ausgabe: 1994 | 2

Am 11/12. Juni '93 hielt die von der Deutschen Bank ins Leben gerufene, nach ihrem (bei einem Anschlag getöteten) Vorstandssprecher Herrhausen benannte Gesellschaft für Internationalen Dialog ihr erstes Jahreskolloquium ab. Wissenschaftler, Manager und Politiker aus mehreren Ländern stellten sich der Frage nach dem Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im zu Ende gehenden Jahrhundert.

Überwindung der „Beamtengesellschaft“ , Neukonzipierung des Sozialstaates, der sich von der allmählich entstandenen allgemeinen Erwartungshaltung löst und "nur dort einspringt, wo der einzelne es sich nicht leisten kann", sowie die Entkoppelung von Wohlstand und Demokratie (letztere müsse auch noch funktionieren bei Wohlstandseinbußen) nennt der bekannte britische Liberale Lord Dahrendorf als Auswege aus einer erstarrenden Gesellschaft, die er - aus der Sicht seines Wirtschaftsliberalismus - vor allem in Deutschland und Schweden ortet.

Den Zerfall der Gesellschaft und nicht ihre Erstarrung fürchtet Jean-Pierre Chevenement, Bürgermeister von Belfort und Mitglied der französischen Nationalversammlung. Er plädiert für eine Rehabilitierung des Staates wie des staatsbürgerlichen Denkens, da die Entscheidungen immer mehr "aus der Ferne getroffen" würden, was die partizipative Demokratie verunmögliche, und wünscht sich ein Europa der Vielfalt (inklusive einer Überarbeitung der Maastrichter Verträge). Aufhorchen läßt der Beitrag von William Marshall, Präsident des Washingtoner "Progressive Policy Institute" (Denkschule der "neuen Demokraten"), der die Eckpfeiler des Clinton-Gore-Programmes darlegt, welches Wirtschaftsliberalismus mit einer aktiven Rolle der Politik verbindet ("Staat mit Unternehmergeist").

Auffallend ist der Klageton der meisten Beiträge deutscher Herkunft: Kritik erfährt etwa die angebliche Angst der Deutschen vor einem weltweiten Strukturwandel und Wettbewerb bzw. die verbreitete „Katastrophensehnsucht" (Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzender Edzard Reuter) oder die Technik- und Forschungsfeindlichkeit (BASF-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger) u. a. in Bezug auf Gentechnologie (Jozef Schell, Direktor des Max-Planck-Instituts für Züchtungsforschung Köln).

Der Kern der gegenwärtigen "Krise" wird vor allem in einem Vermittlungsproblem gesehen (mit nicht wenigen Seitenhieben auf die Medien), der Ausweg in verbesserter Öffentlichkeitsarbeit, was auch Alain Touraine, Mitglied der Ecole des hautes etudes en sciences sociales in Paris, mit seiner Aufforderung zu mehr öffentlicher Debatte über Wissenschaft und Technik bestärkt.

H.H.

Erstarrende Gesellschaft in bewegten Zeiten. Gründe, Folgen, Öffnungschancen. Hrsg. v. d. Alfred-Herrhausen-Gesellschaft für Internationalen Dialog.

Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1993. 245 5., DM 39,801 sFr 36,601 öS 311