Die globale Zivilisation stürze "in die tiefste Krise der Menschheitsgeschichte" und drohe unter den “lawinenartig anwachsenden Folgeschäden" zu zerbrechen, so die pessimistische Ausgangsthese Hermann Scheers - dem Erfolgsautor von "Sonnenstrategie" - in seinem neuen Buch. Ein Befund, den viele, die sich näher mit ökologischen Fragen beschäftigen, teilen. Doch Scheer, der diesmal nicht nur den ökologischen, sondern auch den sozialen Verwerfungen der Weltgesellschaft nachspürt, läßt es nicht bei “Endzeitstimmungen" bewenden. Er macht seine Kritik an konkreten Akteuren und Strukturen fest und bietet Alternativen an.
Mit einem Wort, er plädiert für eine Wiedererlangung der Gestaltungskraft der Politik im Sinne eines “Handelns für die Gemeinschaft eines organisierten Gemeinwesens". Zunächst zur Kritik. Mit "Westlicher Fundamentalismus" überschreibt der Autor das Eingangskapitel, in dem er die Folgen des weltweiten Sieges des neoliberalen Wirtschaftsmodells im Dienste multinationaler Konzerne, die Verschärfung der Nord-Süd-Gegensätze durch das gegenwärtige Weltwirtschaftssystems sowie die Versäumnisse hinsichtlich einer neuen Sicherheitsarchitektur nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation thematisiert. Heftige Kritik erfährt das neue Welthandelsabkommen des GATT. das zu Umwelt- und Sozialdumping führen und damit die sozialen und ökologischen Zerrüttungen beschleunigen werde.
Das zweite Kapitel ist der "Auflösung des Politischen" in den westlichen Demokratien gewidmet. Der "Medienfalle ", die Politik auf das Bestreben, den Medien zu gefallen sowie auf den "Placebo-Effekt des Spitzen andidaten " reduziert habe, setzt der SPD-Politiker den Mut zum offenen und kontroversen politischen Diskurs (auch innerhalb der eigenen Fraktion) entgegen. Der "Marginalisierung der parlamentarischen Funktionen", die aus der Verwischung der Kompetenzbereiche zwischen Regierung und Parlament sowie der vermehrten Delegierung von politischer Macht auf suprastaatliche Ebene resultiere ("Politikverflechtungsfalle"), begegnet er mit der Stärkung des politischen Mandats der Parlamentarierinnen als "Vertreter des Volkes" sowie mit der Forderung nach Dezentralisierung politischer Entscheidungen. Der “Komplexitätsfalle ". die sich in einer zunehmenden Spezialisierung der Politik und deren Reduzierung auf „Ausschnittantworten" spiegle, antwortet Scheer schließlich mit dem Wiederfinden politischer Leitvorstellungen für die "Gesellschaft als Ganzes". Für die sozialdemokratischen Parteien Europas sieht das SPD-Bundestagsmitglied nur eine Zukunftschance, wenn es diesen gelingt, sich von der "Stückwerk-Politik" zu trennen und Perspektiven eines zukunftsfähigen sozialökologischen Wohlstandes zu formulieren.
Wie ein solches Programm aussehen könnte, beschreibt der Autor im dritten Abschnitt des Buches, in dem er zahlreiche Vorschläge für eine neue Energie-, Verkehrs-, Landwirtschaftsund Beschäftigungspolitik macht. Das Beharren auf nationalen Gestaltungsspielräumen im Bereich sozialer und ökologischer Standards, die Entwicklung einer sozialökologischen Kreislaufwirtschaft auf einer natürlichen Energie- und Rohstoffbasis, damit zusammenhängend, die Ökologisierung und Aufwertung der Landwirtschaft als “Primärsektor", der neben Lebensmitteln auch erneuerbare Rohstoffe produziert, sind dabei wesentliche Eckpfeiler eines Leitbildes, das Scheer mit neuer “linker" Politik verbindet. Insbesondere drängt der Sozial- und Umweltpolitiker zum Aufbau einer dezentralen Welthandelsordnung, die sich auf regionale" Märktewirtschaften " konzentriert und die Versorgung mit Primärgütern wieder in den lokalen Markt zurückholt.
Ein mutiges, die Gestaltungskraft der Politik einforderndes Buch, dem große Aufmerksamkeit zu wünschen ist.
H. H.
Scheet, Hermann: Zurück zur Politik. Die archimedische Wende gegen den Zerfall der Demokratie. München: Piper, 1995. 238 S., DM / sFr 34,- / ÖS 268,