Vorweggenommen: Wer sich, dem Titel folgend, die Grundlegung einer praktischen Philosophie erwartet, kommt nicht auf seine Rechnung. Hösle beschäftigt sich nämlich mit ethischen Fragestellungen und widmet sich der Beschreibung von Problemen und Krisensymptomen. Zunächst erfolgt eine Aufarbeitunq wesentlicher ethischer Traditionen der Vergangenheit. Kants Entwurf des Bleibenden und seine Begründung der Ethik in der Autonomie des Subjekts (nicht in der Tradition oder dem Willen Gottes) wird als positive Leistung für die Praktische Philosophie gewürdigt. Anhand der Dialektik von Aufklärung und Gegenaufklärung skizziert der Autor die geschichtliche Wirkung moralischer Reflexion und die theoretische Reaktion auf diese Wirkung. Individualethische Fragen werden anhand des kommunikativen Prinzips, sowohl in der Politik als auch in interpersonalen Verhältnissen, erörtert. Die "Technik als philosophisches Schlüsselproblem " ist für Hösle Grundlage einer Diagnose unserer Zeit. Da die Philosophie selbst wesentlich zur Entstehung der technischen Rationalität beigetragen hat, kann sie sich der Mitverantwortung nicht entziehen, wenn es um Folgeprobleme geht. Zwar verteidigt er die abendländische Rationalität, doch fordert er gegen Heideggers Prinzip der Gelassenheit die Verantwortung ein. Darlegungen zur" Dritten Welt als philosophisches Problem" führen den Autor zu der schockierenden Frage, ob man von einer Ausbeutung der Dritten Welt denn überhaupt sprechen könne. Auf der Suche nach moralischen Kriterien für die Beziehung zwischen Erster und Dritter Welt fordert er jedoch "als Gebot der Gerechtigkeit" die Rückgabe eines Teils der geplünderten Ressourcen. Das "größte Hindernis für eine Bewältigung der Zukunft" ist für Hösle das Selbstmitleid, auch beklagt er das Fehlen einer angemessenen Werttheorie, mit der wir die wirtschaftlichen Beziehungen zur Dritten Welt kritisieren könnten. Entsprechend schwer tut sich der Autor bei seiner halbherzigen Kapitalismuskritik, wenn er meint, "daß der Kapitalismus die einzige der neuzeitlichen Subjektivität angemessene Wirtschaftsform " sei. Er fordert eine tatsächlich ökologisch-soziale Marktwirtschaft und nimmt dafür sogar eine Einschränkung der Lebensgewohnheiten in Kauf. "Denn trivialerweise muß das Lebensrecht kommender Generationen als höherrangig gelten gegenüber dem Recht auf schrankenlosen Konsum der gegenwärtigen Menschen." In Zeiten akuten Handlungsbedarfs kann Fragen, Beschreiben und prinzipielles Festhalten am Bestehenden nicht genügen. Hier gibt es mit der Philosophischen Praxis und der Integrativen Ethik bereits produktive Vorschläge zur Einübung in ethisches Handeln von Politikern und Bürgern. A.A.
Hösle, Vittorio: Praktische Philosophie in der modernen Welt. München: Beck, 1992. 213 S. (Beck'sche Reihe; 482) DM 19,80 / sFr 16,80 / öS 154,40