Der Sammelband ist Ergebnis einer Tagung, die 2015 in Weimar unter dem Titel „Müll – Perspektiven des Übrigen“ abgehalten wurde. Ausgewählte Beiträge finden sich nun hier wieder, alle befassen sich mit Müll, Abfall und Schrott. Die Herangehensweise ist interdisziplinär, neue Sichtweisen auf das Übrige sollen erschlossen, Grenzen dezidiert überschritten werden. Und in der Tat gelingt es den HerausgeberInnen „Müll“ als fächerübergreifenden Untersuchungsgegenstand erkenntnisfördernd zu präsentieren.
„Das, was wir unter Begriffen wie Müll, Übrig-Gebliebenem oder Resten verstehen, steht nicht fest, sondern ist wandelbar. Das was wir als Schmutz, Dreck oder Unrat bezeichnen, hat keine inhärenten Eigenschaften, sondern entsteht in einer Akkumulation von jeweils anders bedingten Einzelfällen.“ (S. 17) Dieses Grundverständnis der Unabgeschlossenheit findet sich in jedem der acht, thematisch überraschend bunt gemischten Essays.
„Cleaning up: Gender, Race and Dirty Work at Home“
Dass Müll und Schmutz mehr sind als physische Zeugnisse ausgehandelter Differenzierungen, zeigt nicht zuletzt der Beitrag „Cleaning up: Gender, Race and Dirty Work at Home“. Rosie Cox geht davon aus, dass Nähe zu Schmutz ein Strukturelement für soziale Ungleichheit ist. Dabei muss dieser Schmutz nicht materiell sein: mit Seifenwerbung aus der Kolonialzeit verdeutlicht sie, wie Reinheit und Fortschrittlichkeit weißer, Schmutz und Rückständigkeit aber schwarzer Haut zugeschrieben wurden. Diese auf Personen bezogene, metaphorische Gleichsetzung mit Schmutz findet sich nicht nur in zurückliegenden, zutiefst rassistischen Kontexten. Das „Andere“ mittels Schmutzanalogien zu verunglimpfen und damit Hierarchien zu implementieren, ist auch aktuell gängige Praxis in Regierungsinstitutionen und multinationalen Unternehmen. Neben dieser negativ konnotierten Klassifizierung ganzer Gruppen, widmet sich Cox auch der Frage, wie im privaten Haushalt mit Putzen beziehungsweise dem Kontakt zu Schmutz umgegangen wird. „It is often the difference within the home in terms of relationships to dirt, which are most important. The doing, or not, of dirty work is divided down the lines of class, ethnicity and gender – the most powerful social divides in contemporary life.” (S.104) Sie bezieht sich auf Hausangestellte und betont, dass Dreck nicht nur in Bezug auf deren Arbeit allgegenwärtig ist, sondern die Tatsache, dass sie mit Schmutz in Kontakt kommen, auch dazu führt, dass sie als dreckig und minderwertig stigmatisiert werden. Dieser Mechanismus funktioniert natürlich vice versa, wenn also Personen aufgrund ihrer nicht-weißen Hautfarbe und den darauf projizierten Vorurteilen als geeignet betrachtet werden, um mit Dreck umzugehen.
Auch wenn Cox historische Beispiele anführt, so betrachtet sie diese Verhaltensmuster als gegenwärtig: Hausangestellte werden aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als schmutzig deklariert, tragen aber zugleich die Verantwortung für die Reinheit, welche die Überlegenheit ihrer Arbeitgeber signalisiert. Dass die Arbeit mit Müll soziale Ungleichheiten und Hierarchien untermauern, sollte demnach bewusst wahrgenommen werden: „Taking waste seriously, using it as a concept to think with, seeing its psychological and political power opens up new spaces for action. Not just action to protect the environment, important though that clearly is, but also action to reconsider and reimagine new, more ethical, social relations” (S. 114)
Neue Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene
Die teils deutsch-, teils englischsprachigen Essays durchqueren unterschiedliche wissenschaftliche Felder und eröffnen neue Perspektiven – materiell, kulturell, sozial, sprachlich, medial. Ins Zentrum gerückt wird dabei vor allem, was oftmals allzu schnell aus dem Blickfeld verschwindet.
Lewe, Christiane; Othold, Tim; Oxen Nicolas (Hg.): Müll. Interdisziplinäre Perspektive auf das Übrig-Gebliebene. Bielefeld: transcript Verlag, 2016. 111 S., 29,99 [D], 30.90 [A]; ISBN 978-3-8376-3327-6