Die Wiener Philosophin Isolde Charim hat sich in einem klugen und wichtigen Buch Gedanken darüber gemacht, wie Menschen in einer pluralisierten Gesellschaft mit einer Vielzahl von – häufig schwammigen und unbeständigen – Identitätsentwürfen leben, und wie sich Individuum und Gesellschaft im Pluralismus völlig neu ordnen.
Waren die alten Nationalstaaten relativ homogen, leben wir nun in einer zunehmend pluralisierten Gesellschaft, die unser „Ich“ für immer verändert: „Es gibt keine selbstverständliche Kultur, keine selbstverständliche Zugehörigkeit mehr. Und das ist eine wirklich einschneidende Veränderung“ (S. 31). Die Autorin spricht von einer nicht-vollen Zugehörigkeit zur Gesellschaft: Niemand ist mehr vollständig und umfassend Teil einer Gemeinschaft bzw. ist Zugehörigkeit nicht mehr selbstverständlich.
Diese Pluralisierung verändert unsere Identität, indem wir keine klar definierten Gestalten in Gemeinschaft mit anderen mehr sind (etwa: Staatsbürgerin). Dieser alte, „erste“ Individualismus wurde schon im Zuge der 68er-Revolution in Frage gestellt, wo Identitätspolitik – die Rolle individueller Identität für politisches Handeln – erstmals die Bühne betrat. Der „zweite Individualismus“ zeichnet sich durch flexible politische Zugehörigkeit aus, während er selbst Identität als unveränderbar begreift: man ist unveränderlich schwarz, homosexuell oder eine Frau (vgl. S. 40f.). Auch diese Form von Individualismus ist laut Charim überholt. Sie spricht vom mittlerweile „dritten Individualismus“, der in der pluralisierten Gesellschaft wurzelt. Dieser Individualismus ist im Kontext erodierender Bezugssysteme zu verstehen: als „Weniger-Ich“, ein gespaltenes Individuum in einer Gesellschaft mit multiplen Optionen, welches in ständiger Ungewissheit und Offenheit lebt. „Das verlangt dem Einzelnen viel ab: Er muss sich seiner eigenen Identität versichern. Wir müssen uns selbst ständig unserer eigenen Identität versichern“ (S. 47) – ein identitäres Prekariat, welches von jedem anders erlebt wird und ein Nebeneinander von Lebenswelten statt ein Miteinander bedingt.
Charim konstatiert Rückkehr der Tradition
Die Konsequenzen einer pluralisierten Gesellschaft mit „nicht-vollen Individuen“ zeigen sich vor allem in neu definierten Rollen von Religion, Kultur und der Politik. Charim argumentiert, dass es zwar eine Rückkehr der Religion gibt (vor allem in Hinblick auf den Islam), dass aber Religion trotzdem vollkommen neu zu verstehen sei: Früher waren Gesellschaften religiös homogen; nun stehen eine Vielzahl von Glaubensformen (und auch Nicht-Glauben) einander gegenüber. Damit relativiert sich auch der Glaube, da er letztendlich eine bewusste Entscheidung der Gläubigen darstellt (S. 66). Im Bereich Kultur konstatiert Charim eine Rückkehr der Tradition als Form der Abwehr gegenüber der pluralisierten Gesellschaft. Das Überbetonen von Tradition zeigt sich in islamistischen Strömungen, die versuchen, eine Orthodoxie zu rekonstruieren und damit Identität zu stärken, ebenso in Diskussionen rund um die Leitkultur, der Rückkehr der Tracht und des „heimattümelnden“ Schlagers. Damit sollen die „prekarisierten Identitäten“ mit Sicherheit versorgt werden.
Was Politik anbelangt, hat sich das Konzept der Partizipation fundamental verändert: Partizipationsformen im dritten Individualismus sind kurzlebig, fluid, unhierarchisch, flexibel. Die Occupy Bewegung ist exemplarisch dafür. Dazu kommt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Institutionen und Parteien, während politisches Handeln zunehmend von Emotionen getrieben wird – vor allem von Empörung, aber auch vom Begehren nach Anerkennung. Zwangsläufig werden politische „Lebensläufe“ damit bunter; Loyalitäten verschwinden – man folgt allein dem eigenen spontanen moralischen Anspruch, und erwartet die Umsetzung politischer Glücksversprechen ohne Aufschub. „Politischer Hedonismus“ nennt Charim dieses Verhalten (S. 128). Damit leitet die Autorin zum Thema Populismus über, dessen Erfolg darauf beruht, (negative) Emotionen zu kanalisieren und sogenannte unteilbare Konflikte (jene um Identitäten, Kultur, Werte) zu hegen (S. 149). Dazu kommt ein von Populisten neu inszenierter Politikertypus: der Narzist, dessen Attraktion auf Wähler allein darauf beruht, sich Dinge herauszunehmen, die man sich selber wünschen würde – ein Stellvertreter und keine übergeordnete Autorität mehr. PopulistInnen treten zudem als entschiedene GegnerInnen linker Identitätspolitiken auf und punkten damit bei den WählerInnen. Tatsächlich ist vor allem in den USA die ursprünglich emanzipatorische Identitätspolitik gekippt, in eine „höchst gesteigerte Empfindsamkeit“ mit einem „strategischen Vorteil des Opferstatus, aus dem nunmehr Anspruch auf Bevorzugung und moralische Überlegenheit abgeleitet wird“ (S. 187). Im Grunde ist diese gekippte Identitätspolitik eine Abwehr gegen die pluralisierte Gesellschaft, nur eben von Seiten der Linken: Man hält an unveränderbaren, fixen Identitäten fest und steigert sie ins Maßlose.
Was tun, fragt die Autorin am Schluss – nur um zu bemerken, dass man nichts tun kann: „Die Frage Was tun? gibt sich der irrigen Hoffnung hin, es gäbe eine Antwort, es gäbe eine konkrete Anleitung“ (S. 216). Das Buch endet ohne konkrete Lösung oder Empfehlung – und damit mit einer Verweigerung einfacher Rezepte. Es wäre freilich spannend, auch die komplizierten Wege auszuloten.