Die Kunst, kein Egoist zu sein

Ausgabe: 2010 | 4

Richard David Precht gilt als Jungstar in der neuen deutschen Philosophieszene. In seinem neuen Buch „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ diskutiert er in den drei Abschnitten „Gut und Böse“, „Wollen und Tun“ sowie „Moral und Gesellschaft“ aktuelle Fragen auf ansprechendem Niveau und zudem leicht verständlich. Hier insbesonders von Interesse sind die Ausführungen zu Wirtschaft, Moral, Menschenbild oder Lebensqualität. Precht schreibt unter Bezugnahme auf aktuelle Forschungen etwa der Neurobiologie oder Glücksforschung an gegen reduktionistische Betrachtungen des Menschen als egoistisches Wesen. Er kritisiert die Verdummungsstrategien der Konsumgesellschaft ebenso wie den Verlust der Moral im Wirtschaften. „Die Krise unserer Zeit ist mehr als nur eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie ist eine Gesellschaftskrise“, konstatiert der Philosoph. Unsere Wirtschaft, die uns in vielen Dingen weit nach vorn gebracht habe, schade uns aber ebenso: „Noch nie zuvor war eine Gesellschaft so sehr auf Materielles fixiert, ohne dadurch glücklicher zu werden.“ (S. 352) Die mangelnde Solidarität sei Folge unseres Wirtschaftens: „Markt- und Markenwirtschaft erzeugen kein Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern moralische Zeitarbeiter ohne Milieubindung.“ (ebd.) Doch eigentlich wollten wir etwas anderes: mehr Muße, mehr Freizeit, weniger Stress, einen erfüllenden Beruf und mehr Zeit für Freunde und Familie. „Wir brauchen nicht mehr Zeug, sondern mehr Zeit.“ (ebd.) Sätze wie diese mögen einfach – für manche vielleicht sogar vereinfachend – klingen, sie treffen aber doch den Kern dessen, was hinter den aktuellen Krisen steht.

 

Precht kritisiert freilich auch die „shifting baselines“ in der Bereicherungswirtschaft der letzten Jahrzehnte. Bezug nehmend auf die „ordoliberale Schue“ des Freiburger Kreises um Walter Eucken und anderen meint er etwa im Kapitel „Herr Ackermann und die Armen“, dass das sich als „neoliberal“ selbst missverstehende Finanz-, Wirtschafts- und Denkmodell „bankrott“ sei: „Die Finanzkrise belehrt ebenso missverständlich darüber wie der moralische Notstand unseres Wirtschaftssystems.“ (S. 400).

 

Immer wieder verweist der Philosoph auf die Bedeutung von Werten für das Zusammenleben. Moral entstehe durch „Vorleben und Abgucken, durch Nachahmen und Identifizieren“, das gegenwärtige Wirtschaftssystem wirke dem jedoch diametral entgegen: „Wer einseitig auf  Konkurrenz setzt und die Kooperation vernachlässigt, gebiert keine netten Menschen. Wer gesättigte Märkte mit staatlichen Finanzspritzen aufputscht, um die Status-Gier zu beflügeln, der pult am sozialen Kitt unserer Gesellschaft. Wer tatenlos zusieht, wie sogenannte Spitzenmanager die Gehalts- und Bonusschraube ins Unermessliche drehen, der gefährdet das Gefühl für Sitte und Anstand.“ (S. 395) So gesehen sei die Finanzkrise weniger ein Unfall als ein Symptom unserer Zeit.

 

Precht setzt auf die Etablierung „moralisch fühlender und denkender Milieus“ (S. 411) in Unternehmen sowie in der Gesellschaft, auf bürgerschaftliches Engagement, das den Sozialstaat nicht erübrige, aber aufgrund des demografischen Wandels in Zukunft ergänzen müsse, sowie auf eine neue Steuerkultur. Anders als Peter Sloterdijk, der im Juni 2009 in der FAZ zum „antifiskalischen Bürgerkrieg“ aufgerufen hatte, plädiert Precht für die Erhöhung der „intrinsischen Motivation“ für das Steuerzahlen. Ab Jahreseinkommen von 250.000 Euro sollten etwa fünf Prozent mehr Steuer erhoben werden, die Betroffenen sollten sich jedoch den Verwendungszweck dieser Mehrsteuer aussuchen können.

 

Nicht zuletzt plädiert der Autor für eine starke Dezentralisierung, sprich Aufwertung der Kommunen und deren Leistungen statt deren Privatisierung; zugleich müsse die totale Liberalisierung des Marktes (bei Ausschreibungen) durch die Europäische Union zurückgenommen werden. Denn: „Was als freier Markt innerhalb Europas deklariert wird, kennt am Ende nur noch wenige Große, die sich den Markt aufteilen.“ (S. 446) Der Krise der Politik möchte Precht überdies durch eine Konkordanzdemokratie à la Schweiz, die der Konkurrenzdemokratie überlegen sei, sowie durch mehr direkte Demokratie entgegenwirken.

 

Generell geht der Philosoph von der starken Formbarkeit der Präferenzen von Menschen aus, was eben die Wichtigkeit moralischer Milieus unterstreiche: „Sozialverhalten und moralische Gruppenstandards sind das Ergebnis von Ansteckungen, die mich oft nur vermeintlich aus mir selbst heraus motivieren.“ (S. 433) Darauf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auszurichten, sieht er daher als Hebelpunkt für eine Umsteuerung. Ein sehr lebens- und politiknahes Buch eines Philosophen, das die Disziplin bereichert! H. H.

 

Precht, Richard David: Die Kunst, kein Egoist zu sein. Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält. München: Goldmann, 2010. 544 S., € 20,- [D], 20,60 [A], sFr 35,-

 

ISBN 978-3-442-31218-4