Die Berechnung des Kommenden

Ausgabe: 2014 | 1

Nate Silver hat Vorschusslorbeeren geerntet. Er hatte das Ergebnis der amerikanischen Präsidentschaftswahl exakt vorhergesagt. Auch bei anderen Vorhersagen übertraf er die Konkurrenz. In dem Buch „Die Berechnung der Zukunft“ erklärt Silver, wie das funktioniert hat.

Es ist ganz einfach: Er greift eine andere Tradition der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf als viele andere Meinungsforscher und Prognostiker. Silver hat diese Tradition nicht erfunden – wie der Begriff `Tradition´ wohl auch klar macht. Er hat sie allerdings erfolgreich angewandt. Das ist nicht selbstverständlich, denn statistische Anwendungen sind sehr oft fehlerhaft, weil die Methodik komplex ist und nicht ausreichend verstanden wird.

Die Tradition, in der Nate Silver forscht, geht auf den englischen Geistlichen Thomas Bayes zurück, der Anfang des 18. Jahrhunderts lebte. Noch heute ist ein Zweig der Statistik nach ihm benannt. Bayes sprach über die Zukunft in Kategorien der Wahrscheinlichkeit. Das nach ihm benannte Theorem „In a nutshell“ gibt die Wahrscheinlichkeit an, ob eine Theorie oder Hypothese wahr ist, falls ein bestimmtes Ereignis eingetreten ist. Man schätzt zunächst die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses, bevor es eintritt. Nennen wir dies „A-priori-Wahrscheinlichkeit“. Am Ende hat man eine neue Wahrscheinlichkeit, die „A-posteriori-Wahrscheinlichkeit“, dass diese Erklärung auf das beobachtete Phänomen zutrifft. Dazwischen muss man die Wahrscheinlichkeiten des Ereignisses bestimmen, einmal unter der Voraussetzung, dass die These richtig ist, und einmal, dass sie falsch ist. Man ändert also die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Ereignissen nach bereits erfolgten Ereignissen. „Die Vorstellung, die hinter dem Bayes-Theorem steckt, ist jedoch nicht, dass wir unsere Wahrscheinlichkeitsschätzung nur einmal aktualisieren. Stattdessen tun wir das ständig, solang sich uns neue Erkenntnisse bieten.“ (S. 304)

Nehmen wir an, wir wollen bestimmen, ob ein Fußballer ein guter Stürmer ist. Dazu setzen wir eine Anfangswahrscheinlichkeit fest. Bei den Einkäufen des Vereins des Rezensenten muss dabei leider der niedrige Wert 20 Prozent (Variable x) eingesetzt werden. Überraschenderweise trifft der neue Spieler in den ersten drei Ligaspielen der Saison sechs Mal. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sechs Mal trifft, weil er ein guter Stürmer ist? Dazu könnte man die besten Stürmer der Liga der vergangenen Jahre heranziehen und sehen, wie wahrscheinlich sie für eine solche Serie verantwortlich waren, wenn sie auftrat. Das Ergebnis liegt bei 90%. Nächster Schritt. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Neueinkauf sechs Tore schießt, obwohl er ein schwacher Stürmer ist? Es gibt ziemlich viele schwache Stürmer, denen eine solche Serie nie im Leben gelang. Wenn der Neueinkauf ein schwacher Stürmer ist, steht die Wahrscheinlichkeit für sechs Tore in drei Spielen in Folge bei sehr niedrigen 2 Prozent. Die Formel lautet nun  um zur A-posteriori-Wahrscheinlichkeit zu kommen. Unser Neueinkauf ist zu 91,8 Prozent ein guter Stürmer.

Ein Kernelement der Kritik an dem Modell war immer, dass man irgendwie die A-priori-Wahrscheinlichkeit festlegen muss, auch wenn man sie nicht wüsste und sich darüber einig wäre. Silver meint hier, dass diese in Form von Wetten ermittelt werden sollte. Es sollte Annahmen geben, auf die gewettet werden muss. „Im Bayes-Land gibt es nur diese beiden Möglichkeiten: sich einigen oder wetten.“ (S. 405) An unserem Beispiel wir bereits klar, dass die Mathematik nicht die Theoriebildung ersetzt. Silver widmet in seinem Buch diesem Argument viel Raum. Dabei bringt er sein Modell auch für die Frage der Klimaerwärmung in Anschlag. Genauer gesagt stellt er die Frage: Ist es wahrscheinlich, dass es einen globalen Klimaanstieg gibt, auch wenn die Temperatur zuletzt 10 Jahre lang nicht angestiegen ist? Silver nimmt die wissenschaftliche Literatur als Grundlage für die A-priori-Wahrscheinlichkeit, sodass ein Klimaanstieg zu 99 Prozent wahrscheinlich ist. Dann fragt er, wie wahrscheinlich es ist, dass zehn Jahre lang keine Erwärmung festgestellt wird, obwohl die These stimmt und er fragt, wie wahrscheinlich es ist, dass kein Anstieg gemessen wird, wenn die These falsch ist. Lassen wir die Mathematik außen vor: Silver errechnet, dass die These von der Klimaerwärmung zu 85 Prozent zutrifft, auch nach zehn Jahren ohne Temperaturanstieg. (Stefan Wally)                                                                 

Silver, Nate: Die Berechnung der Zukunft. Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen. München: Heyne, 2013 665 S., € 24,99 [D], 25,70 [A], sFr 35,50 ISBN 978-3-453-20048-7