Beschleunigungsgesellschaft

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Nicht weniger als eine neue „Soziologie der Beschleunigung“ verspricht Hartmut Rosa in seinem Essay „Beschleunigung und Entfremdung“. Das Buch sei ein „kurzer Versuch über das moderne Leben“ und wolle die Sozialwissenschaften wieder an jene Fragen heranführen, die die Menschen in ihrem Alltag beschäftigen. Es kehre daher zurück zur Frage „nach dem guten Leben – und der Frage danach, warum wir eigentlich kein gutes Leben haben“ (S. 7). In einer „Theorie der Beschleunigung“ beschreibt Rosa zunächst die technische Beschleunigung, jene des sozialen Wandels sowie jene des Lebenstempos. Er stößt dabei auf fast food, speed dating, power naps oder gar drive-trough funerals, die es den USA bereits geben soll. An Studien der Zeitverwendungsforschung macht der Autor deutlich, dass sich die Zeit in der Tat immer mehr verdichte, obwohl die technische Beschleunigung eigentlich Zeit freisetzen müsste. Als „Motoren der sozialen Beschleunigung“ identifiziert der Autor zuallererst das wettbewerbsorientierte kapitalistische Marktsystem, das mit dem Wettbewerb der Nationalstaaten seit der Etablierung des „Westfälischen Systems“ nach 1648 begonnen habe und sich heute aus der Perspektive der Individuen fortsetze „in einem andauernden Konkurrenzkampf um Bildungsabschlüsse und Jobs, Güter zum demonstrativen Konsum, den Erfolg der Kinder, aber auch, und am wichtigsten, darum, einen Partner sowie eine Reihe von Freunden zu finden und zu halten“ (S. 37). Dazu kommt nach Rosa ein „kultureller Motor“, da in der säkularen modernen Gesellschaft die Beschleunigung „ein funktionales Äquivalent für die (religiöse) Verheißung eines ewigen Lebens“ darstelle (S. 39). Wer doppelt so schnell lebt, könne die Summe der Erfahrungen ebenfalls verdoppeln, so die trügerische Annahme, die jedoch in die Irre führe. Denn: „Dieselben Techniken, die uns dabei helfen, Zeit zu sparen, führen zu einer Explosion der Weltoptionen.“ (S. 41)

In der Folge wendet sich Rosa Entschleunigungsstrategien zu, wobei er dysfunktionale oder pathologische Formen der Entschleunigung wie Staus, Depressionserkrankungen oder Langzeitarbeitslosigkeit von „intentionaler Entschleunigung“ unterscheidet. Doch auch letztere könne wieder der Beschleunigung dienen, etwa der Einkehraufenthalt im Kloster oder der Yogakurs, die jedoch nur eine „Pause vom Rennen“ (S. 50) seien. Anders verhalte es sich bei der „oppositionellen Entschleunigung“, die als Aussteigen aus dem System verstanden wird, was jedoch nur bedingt möglich sei. Mit Paul Virilio u.a. verweist Rosa schließlich auf das Phänomen des „rasenden Stillstands“ bzw. der „Erschöpfung utopischer Energien“ (S. 53) in den modernen Beschleunigungsgesellschaften.

 

Anerkennungskampf

Rosa sieht keine grundlegende Abkehr von der Akzelerationsdynamik, vielmehr eine Ablösung des dynamischen Wandels, der eine Richtung hat und als Fortschritt gedeutet werden kann, hin zu einem ziellosen und rasenden Wandel, der in die Erschöpfung führen muss. Kennzeichen dieser Gesellschaft ohne Richtung seien die Schrumpfung von Raum und Gegenwart, der Verlust eines „Verhältnisses zur Welt der Dinge“, die keine Aura mehr haben (S. 64), aber auch der soziale Wettbewerb („Weil soziale Wertschätzung nach dem Wettbewerbsprinzip vergeben wird, ist Geschwindigkeit zu einem entscheidenden Bestimmungsfaktor auf der Landkarte der Anerkennung geworden.“, S. 84). Die „Erschöpfung des Selbst“ sieht Rosa vor allem im steigenden Anerkennungskampf begründet, der mit dem intragenerationonalen Tempo des sozialen Wandels zusammenhänge: „Sobald ein Baby geboren wird, entwickeln die Eltern die paranoide Angst, es könne in der einen oder anderen Weise ,zurückgeblieben‘ sein.“ (S. 88) Und auch die Politik müsse so verflachen: „Mehrheiten werden durch das Erzeugen und Beeinflussen (spinning) von Ereignissen gewonnen, nicht durch Argumente.“ (S. 81) Wähler seien daher heute nicht mehr konservativ, links oder grün, sondern wählen nach der jeweiligen Performance der Parteien und PolitikerInnen. Rosa folgert daraus, dass eine „Kritische Theorie der Anerkennungsverhältnisse“ mit einer „Kritischen Theorie der Zeitverhältnisse“ verknüpft werden müsse (S. 88). Die Demokratie wird laut Rosa auch geschwächt durch eine zunehmende „Desysnchronisation zwischen Politik und der ökonomischen Sphäre“ (S. 103), welche durch die zunehmende Pluralisierung weiter verschärft werde (Verlängerung der Willensbildung und Entscheidungsfindung bei gleichzeitig beschleunigtem technologischen Wandel). Die Politik werde daher nicht mehr als Schrittmacher sozialen Wandels wahrgenommen, „progressive Politik“ habe vielmehr die Aufgabe, Entschleunigungsbremsen einzubauen, um wieder eine gewisse Kontrolle über die Geschwindigkeit und Richtung des sozialen Wandels zu gewinnen.

 

Resonanzerfahrungen

Und wie finden wir nun zum guten Leben? Rosa verweist zunächst noch auf einen weiteren Widerspruch. Trotz der massiv gestiegenen Optionenvielfalt befänden wir uns einem bedenklichen Zwangskorsett. „Ich wage zu behaupten“, so  der Autor pointiert, „dass nirgendwo außerhalb der westlichen Moderne Alltagspraktiken so konsistent durch den Rückgriff auf eine ,Rhetorik des Müssens‘ strukturiert sind.“ (S. 109) Die Liste des Müssens sei lang und ende schließlich mit dem Muss zur Entspannung oder Fitnesstraining, um dem Herzinfarkt oder der Depression zu entgehen. Aufgrund der vielen Optionen und Verpflichtungen fühlten wir uns am Ende des Tages jedoch immer schuldig, weil wir die sozialen Erwartungen nicht genügend erfüllt und die To-do-Listen nicht zur Gänze abgearbeitet hätten.

Rosa gelangt schließlich zum „gebrochenen Versprechen der Moderne“ (S. 113), dass der Mensch aus Unmündigkeit und Zwängen befreit werde, was so nicht eingetreten sei: „Die Kräfte der Beschleunigung werden nicht länger als befreiend erfahren, sondern als unterdrückerische und permanenten Druck ausübende Macht.“ (S. 116) Die Beschleunigung in ihrer spätmodernen Gestalt stelle nicht mehr die Ressourcen bereit für die Realisierung der Träume, Ziel und Lebenspläne der Individuen sowie für die politische Gestaltung der Gesellschaft „im Einklang mit Ideen der Gerechtigkeit, des Fortschritts, der Nachhaltigkeit etc.“, vielmehr verhalte es sich genau andersherum: „Die Träume, Ziele und Lebenspläne der Individuen werden verwendet, um die Beschleunigungsmaschine am Laufen zu halten.“ (S. 118). Die Politik beschränke sich immer mehr darauf, die Konkurrenzfähigkeit der Gesellschaft zu sichern oder zu verbessern, das heißt, „ihre Beschleunigungsfähigkeiten aufrechtzuerhalten“ (S. 119).

Hartmut Rosas Essay legt kritische Befunde vor – der Band schließt mit Beobachtungen, wie Beschleunigung auch zur Entfremdung vom Raum, von den Dingen sowie gegenüber den eigenen Handlungen führt – und deutet somit nur indirekt Auswege an. Diese müssen jedoch, das wird deutlich, vornehmlich in politischen Rahmensetzungen liegen, die dem Beschleunigungsdikat entgegenwirken. Und die Richtschnur für ein gutes Leben sieht Rosa in „vielschichtigen Resonanzerfahrungen“ (S. 148), die sich in der Beziehung des „Subjekts zur sozialen Welt, zur Welt der Dinge, zur Natur und zur Arbeit ergeben“ (ebd.), was auf die emotionale Dimension des In-der-Welt-Seins verweist und sich rein nutzenmaximierendem Denken entzieht.

Hans Holzinger

 

Rosa, Harmut: Beschleunigung und Entfremdung. Frankfurt: Suhrkamp, 2013.  156 S. € 20,00 [D],  20,60 [A], CHF 28,90 ISBN 978-3-518-58596-2