Was aus Deutschland werden soll

Ausgabe: 2010 | 1

„Die Nation arbeitet sich ab an Kleinigkeiten. Ein paar Jahre zusätzliche Laufzeit für Atomkraftwerke. Leicht verminderte  Einkommenssteuern für die Mittelschicht. Etwas mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen. Etwas weniger Kündigungsschutz.“ (S. 7) Damit beschreibt Uwe Jean Heuser in seinem Plädoyer „Was aus Deutschland werden soll“ den Zustand seines Landes kurz nach der geschlagenen Bundestagswahl 2009. Der Wirtschaftredakteur der ZEIT schätzt diese Detailfragen nicht gering, meint aber, dass es um mehr gehe(n müsse), wenn die Zukunft Deutschlands verhandelt werde. Die Widersprüche lägen tiefer, so der Publizist: So hätten wir den „Katastrophenbanken lange Zeit jede Freiheit und Unterstützung gewährt“, während Firmengründer im Rest der Wirtschaft mit einer „ausgefeilten Bürokratie“ drangsaliert würden. Der Arbeitsmarkt werde gehemmt, Arbeit durch hohe Abgaben verteuert, gleichzeitig an Bildung und Ausbildung der Menschen gespart. Es werde „zu Recht große Leistungsbereitschaft von allen Bürgern“ verlangt, doch lebten wir in einer neuen Klassengesellschaft, „die denen am unteren Ende kaum Chancen gewährt“. Nicht zuletzt präsentiere sich die Bundesrepublik als „ökologisch vorbildliches Land“ und verzage, „während andere Nationen die Wirtschaftskrise als grüne Chance nutzen“ (alle Zitate S. 7)

 

Mit diesen Paradoxien deutet Heuser bereits in der Einleitung an, wo seiner Ansicht nach die grundlegenden Reformen nötig sein werden. Sein Buch will er als Aufforderung an Angela Merkel „und die ihren“ verstanden wissen, radikal zu sein: „Radikal im Bemühen, Banken  zu zähmen und Unternehmer zu befreien, radikal im Kampf für mehr Arbeit und mehr Fairness, radikal im Ringen um die Klimawende.“ (S. 8) Oder kürzer: „Deutschland kann wirtschaftlich erfolgreicher, fairer und grüner werden“ (ebd.). Das Ziel: „Eine Chancengesellschaft für jedermann mit ökologischem Gewissen.“ (S. 9)

 

Der Autor lässt zunächst die Reformbemühungen der letzten Regierungen Revue passieren – er lobt Erreichtes und kritisiert zugleich Versäumnisse – und widmet sich dann den von ihm als zentral herausgestellten Reformvorhaben: der Wirtschaft, dem Arbeitsmarkt, der Verteilungsgerechtigkeit sowie der Klimawende.

 

Zur Wirtschaft: Die Banken bekommen reichlich Fett ab („Wir müssen zwar mit den Schwankungen des Kapitalismus leben, aber gewiss nicht damit, dass die Banken diese nach Herzenslust verstärken und sich dabei zwischenzeitlich eine goldene Nase verdienen.“ S. 41), aber auch der Staat, der sie zu lange gewähren lassen und „damit das Feuer auch mit gelegt“ (S. 37) hatte, kommt nicht ungeschoren davon. Heusers Forderungen: „Alle Finanzinstitute werden einheitlich kontrolliert, ihre neuen Produkte geprüft. Die Banken werden zu Vorsorge und Vorsicht durch mehr Eigenkapital und langfristig erzielte Boni erzogen. Geschäfte außerhalb der Bilanz sind verboten. Derivate werden nur über offizielle Börsen gehandelt.“ (S. 48) Im Gegenzug sollen die Vorschriften für Unternehmen(sgründungen) entrümpelt (ein internationales Ranking bezogen auf die Bedingungen für Unternehmensgründungen verweise Deutschland auf Platz 102 in der Weltrangliste) sowie die Ausgaben und Strategien für Forschung ausgeweitet werden – Heuser plädiert u. a. für die steuerliche Förderung von Forschungsfirmen, die in Zukunftsbranchen investieren, etwa Elektromobilität (so müssten sich die Deutschen von ihrer „Lieblingsindustrie“, den alten Autokonzernen trennen).

 

Zum Arbeitsmarkt: Der Autor kritisiert die Spaltung des Arbeitsmarktes in regulär und prekär Beschäftigte („Deutschland hat sich – unabsichtlich aber doch absehbar – eine Klassengesellschaft der Arbeit aufgebaut.“ S. 68). Er fordert – wie andere auch – bedeutend mehr Bildung, die dann bessere Arbeit bringe, eine Lockerung des Kündigungsschutzes (stattdessen solle es „klare Regeln für Abfindungen“ geben) und insbesondere die Verringerung der Abgaben auf Arbeit („Der 40-Prozent-Junkie Deutschland braucht einen Lohnnebenkosten-Entzug.“, ebd.), nur so könne der Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft gelingen. „Welfare for work“ oder „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ hält Heuser für zielführend, ein allgemeines Bürgergeld sieht er problematisch: „Die Gefahr ist groß, dass sich die Bürgergeldgesellschaft viel deutlicher spalten würde als die heutige Arbeitsgesellschaft. Und niemand wäre da, um die Menschen auf den unteren Etagen aus ihrem arbeitsfernen Milieu zu zerren.“ (S. 73)

 

 

 

Defekter Fahrstuhl

 

Das führt zum dritten Bereich, der Verteilungsgerechtigkeit: Die große Unzufriedenheit der Deutschen mit den gegebenen Einkommens- und Verteilungsverhältnissen ortet Heuser insbesondere in der hohen Abgabenlast der Mittelschicht sowie teilweise in zu niedrigen Transferzahlungen für jene, die sie nötig haben. Dem soll eine automatische Anpassung dieser Transfers an die Inflation sowie die Wirtschaftsentwicklung Rechnung tragen. Sinnvoll wären nach Heuser auch als von allen als gerecht empfundene Abgaben wie eine erhöhte Erbschafts- oder eine nationale Börsenumsatzsteuer (da die internationale Einführung einer Devisentransaktionsteuer unrealistisch sei – Heuser spricht von „Utopistensteuer“). Das Hauptproblem sieht der ZEIT-Redakteur freilich in der sozialen Undurchlässigkeit der deutschen Gesellschaft („Der Fahrstuhl ist defekt“ S. 97) Noch größer als die Einkommensungleichheit seien die Unterschiede in der Bildungskarriere („So fallen Jahr für Jahr rund 150.000 Jugendliche aus dem deutschen Bildungssystem, weil sie keine Ausbildung beginnen.“ S. 101) Vier einander überlappende Bevölkerungsgruppen macht Heuser aus, die am meisten von Armut bedroht sind: Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte, Alleinerziehende und Migranten. Sie müssten besonders gefördert werden. Und analog einer Idee des Yale-Professors Robert Shiller, der für die USA vorgeschlagen hat, die Einkommenssteuersätze an die Einkommensverteilung zu binden, plädiert er dafür, die Steuersätze für die Wohlhabenden anzuheben, „wenn Deutschland in den nächsten Jahren die Wende zu mehr Chancengleichheit (festgemacht an internationalen Maßstäben) nicht schafft“ (S. 104).

 

Kommen wir schließlich zur Klimawende: Auch diese brauche, so der Autor, vornehmlich neue Anreizstrukturen für weniger Energieverbrauch – Heuser plädiert etwa für eine erweiterte Ökosteuer oder eine Teileinrechnung der Heizkosten in die Miete (was Vermieter anspornen würde, ihre Häuser „grüner“ zu machen) -  und in zweiter Folge neue Energietechnologien, bei denen Deutschland zu den weltweiten Führungsnationen werden könnte (und sollte). Heuser benennt auch die Schwierigkeit der Klimafalle, die diese von anderen Problemen unterscheide und rechtzeitiges Handeln so schwer mache: „Zur echten Not wird das Klima erst dann, wenn es für die Reaktion dann schon zu spät ist.“ (S. 124) So bleibe nur die Hoffnung, dass es der Verhaltenswende so ergehe wie dem Klimawandel, dass sie zwar langsam und eher unauffällig beginne, doch irgendwann dann anfange, sich selbst zu verstärken.

 

In Summe ein Buch mit zahlreichen Vorschlägen für ein Deutschland, das sich der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Wende stellt und allen gefallen wird, die von der Reformierbarkeit des Kapitalismus ausgehen und die an weiteres Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Ökologisierung glauben. H. H.

 

Heuser, Uwe Jean: Was aus Deutschland werden soll. Der Auftrag an die Wirtschaftspolitik. Frankfurt: Campus, 2009. 159 S., € 16,90 [D], 17,40 [A],

 

sFr 29,90;  ISBN 978-3-593-39068-0