Zivilcourage wagen

Ausgabe: 1992 | 2

Schon bisher haben Menschen mit Mut und Engagement Atomkraftwerke verhindert, Stadtviertel verändert, Landschaften geschützt, Menschenleben gerettet. Als vorherrschende Tugenden und Verhaltensweisen gelten jedoch nach wie vor Gehorsam, Angepasstheit und Mitläufertum. Daraus resultiert für Singer die Notwendigkeit, "sich mit der eigenen Meinung öffentlich erkennen zu lassen". Dazu will er ermuntern, indem er auf Prozesse hinweist, durch die das Selbstvertrauen jedes einzelnen wachsen könnte. Zivilcourage beschreibt der Psychoanalytiker als eine demokratische Tugend, als geistigen Widerstand, als individuelle Form der Einmischung, als kritisch wachsames Aufdecken, als Für-etwas-Eintreten mit dem Ziel der politischen Veränderung und mehr Menschlichkeit. Durch Einsicht und Übung soll es gelingen Autoritätshörigkeit zu überwinden und einen Bewusstseinswandel einzuleiten, der Regierende bewegen könnte, Vernunft anzunehmen. Beispiele von Bürgermut gibt es genügend: u.a. eine mutige Aktion des sechsjährigen Schülers Erich Fried, die "Stoppt-Strauß "-Plakette einer Schülerin, die Aktion Humane Schule, "Das bessere Müllkonzept" oder die Initiative zur außerparlamentarischen Opposition in einer Gemeinde. Auf einer tiefgründig psychologischen Ebene berichtet der Autor u.a. von der anerzogenen Neigung zu Gehorsam (Milgram-Experiment) und von Übungen zur Bearbeitung der Autoritätsangst. Es gibt, darüber ist sich auch Singer im klaren, keine normativen Handlungsanleitungen auf dem Weg hin zu mehr Zivilcourage. Vielmehr hat jeder für sich seine Form der Einmischung zu entwickeln, sei es gegen Sprachverfälschung (Termini wie „Freisetzung von Arbeitskräften", "thermische Verwertung" oder "Arbeitnehmer/Arbeitgeber''), sei es durch Auflösung von Feindbildern - aus welchen Beweggründen immer. Zusammengefasst fordert der Autor mit guten Gründen das "Wiederstandsrecht der alltäglichen praktischen Vernunft", nämlich für menschlichere Lebensbedingungen einzutreten. AA

Singer, Kurt: Zivilcourage wagen. Wie man lernt, sich einzumischen. München (u.a.): Piper, 1992. 190 S., DM 28,- / sFr 23,70 / öS 218,40