Von der Unmöglichkeit der Nähe

Ausgabe: 1991 | 2

Jeder braucht sie, aber keiner kriegt sie: Nähe ist nicht mehr möglich. Das sei der Preis für individuelle Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung beider Geschlechter. Denn "Liebe wird immer nur von unten nach oben und von oben nach unten gedacht". In der Gleichstellung liege offenbar eine "so große Aufforderung zum Rivalisieren, dass dadurch eine liebevolle Gefühlsbeziehung automatisch beeinträchtigt oder gar verhindert wird". Statusbedingt zeichne sich das Verhalten von Frauen eher dadurch aus, dass sie Nähe ermöglichen wollen, während Männer auf Distanz hielten. Hinzu komme der Zwang zu Schnelllebiqkeit, Mobilität und Kosten-Nutzen-Denken, der sich auch auf unsere Beziehungen ausgewirkt hat: "Moderne soziale Beziehungen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie beliebig, austauschbar, jederzeit aufkündbar sind". Der Vorteil dieser schwachen Bindungen: Beziehungen sind der Schlüssel zu beruflichem und sozialem Erfolg. Die einzige Ausnahme sei die Beziehung zum Kind, denn hier gehe es nicht um Kalkül, sondern um Gefühl. Doch in dieser Bindung könnten keine Menschen heranwachsen, die Nähe geben und aushalten würden, denn aufgrund der Kleinfamiliensituation in einer kinderfeindlichen Umwelt ist die Mutter-Kind-Beziehung die einzige enge Bindung und deshalb mit starken Verlustängsten befrachtet. Jede weitere enge Bindung im Leben werde dadurch erschwert. Um nun die überforderten Mütter zu entlasten und den Kindern Gelegenheit zu geben, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, werden die altersgerechten Babykrabbel- und Kindergarten-Gruppen gegründet. Dabei sei das Kind oft Konkurrenz- und Aggressionserlebnissen ausgesetzt und müsse schon früh auf Geborgenheit und Sicherheit in intimen Bindungen verzichten all das Befunde einer wohl noch länger "kühlen Gesellschaft". 

Szczesny-Friedmann, Claudia: Die kühle Gesellschaft. Von der Unmöglichkeit der Nähe. München: Kösel, 1991. 213 S., DM 29,80/ sFr 25,30 / öS 232,40