Technische Katastrophen und gesellschaftliche Verantwortung

Ausgabe: 1987 | 2

Endlich ist dieses bereits 1981 in Frankreich unter dem Titel »La civilisation du risque« publizierte Buch auch auf Deutsch erschienen. Es beschreibt den außer der atomaren Kriegsgefahr düstersten Schatten, der über der Zukunft der Menschheit liegt: die technische Großkatastrophe. Sie unterscheidet sich von früheren industriellen Unfällen durch ihr enormes Ausmaß sowohl räumlicher wie zeitlicher Natur, denn sie kann unter Umständen die Räumung ganzer Städte oder sogar Regionen erfordern und ihre Folgen können weit über die Lebenszeit einer Generation hinausreichen. Nach einer historischen Darstellung, die eindrucksvoll die Steigerung dieser menschengemachten Gefahren zeigt, versucht der Autor die »verfügbaren Kontrollmöglichkeiten und ihre Grenzen- kritisch zu analysieren. Dabei zeigt er auf, dass - zumindest nach dem heutigen Stand - die Chancen der Katastrophenverhütung geringer eingeschätzt werden müssen als die Befürworter des »beherrschbaren Risikos« behaupten. Daran sind nicht nur technische Unvollkommenheiten schuld, sondern vor allem »dle Akteure«: Menschen, die mit Planung und Betrieb der Großtechnik befasst sind. Unternehmer, Beamte, Experten werden als Blinde, Beschwichtiger, Beschöniger entlarvt, die der »Last der vollen Verantwortung«, die sie tragen müssten, nicht gewachsen sind. Aber auch die betroffenen Bürger werden kritisiert, weil sie mehrheitlich die Realität dieser neuen Drohungen verleugnen und sich in trügerische Ruhe flüchten. Wie so oft sind die Vorschläge, die zur Veränderung dieser menschheitsgefährdenden Situation gemacht werden, weitaus schwächer als die in ihrer ruhigen Unerbittlichkeit eindrucksvolle Schilderung der sich zuspitzenden kritischen Situation. Drei Zukunftsoptionen werden vorgestellt: Erstens ein Leben mit den Risiken der Großkatastrophen, die jedoch durch diktatorische Sicherheitsvorschriften gemildert werden sollen. Zweitens: die Wende einer »sanften Technologie«, auf Grund einer radikalen Änderung der gegenwärtigen Wert- und Zielvorstellungen. Drittens die vom Autor vertretene Möglichkeit, die er als »aufgeklärten Drahtseilakt« beschreibt: der Politik ihre Entscheidungsfunktion in Bezug auf technische Entwicklungen zurückgeben und zwar durch demokratische Öffnung der Entscheidungsprozesse: »Strategien zu erarbeiten, die es allen Teilen des Gemeinwesens erlauben, den eigenen Wandel besser zu lenken, die Entwicklungsmodi zu wählen, die ihm - bei voller Kenntnis der damit verbundenen Risiken - als die besten erscheinen.« Trotz des enttäuschenden letzten Teils, der die Last der Verantwortung von wenigen auf viele Schultern verlegt, statt eine radikale Abkehr von der zunehmenden Größe, Komplexität und Potenz der technischen Anlagen zu fordern, ist dies ein außerordentlich wichtiges, gut lesbares und zum Nachdenken anregendes Buch, das durch die Lektüre der ebenfalls in diesem Jahr erschienenen Analyse der »Risikogesellschaft« durch Ulrich Beck (Suhrkamp Verlag) erweitert werden sollte.

Lagadec, Patrick: Das große Risiko. Technische Katastrophen und gesellschaftliche Verantwortung. Nördlingen: Greno Verl., 1987. 283 S.