Europa im Erdölrausch

Ausgabe: 2012 | 3

„Die Erdölgeschichte, welche 1859 mit der industriellen Förderung ihren Anfang genommen hatte, feierte im Jahre 2009 den 150. Jahrestag. In dieser relativ kurzen Zeit hat Erdöl nicht nur in Europa, sondern in allen Industrieländern zu einem fundamentalen Strukturwandel beigetragen und ist weltweit zum wichtigsten Energieträger aufgestiegen. Als Treibstoff für Millionen von Maschinen sorgt Erdöl heute für Mobilität, Wärme und Strom und dient als Rohmaterial für viele Produkte, darunter Plastik, Düngemittel und Farben.“ (S. 23) Damit beginnt Daniel Ganser seine Abhandlung „Europa im Ölrausch“. An die zehn Jahre hat der Wirtschaftshistoriker recherchiert, um die Geschichte des Erdöls zu rekonstruieren, beginnend bei „Europa vor der Entdeckung des Erdöls“ über den „Beginn des Erdölzeitalters“ bis hin zu „Peak Oil“ und dem „Ende des Erdölrausches“. Als Leiter des Swiss Institute for Peace and Energy Studies geht es ihm insbesondere um die Konflikthaftigkeit des vor über 100 Millionen Jahren mehrheitlich aus Algen gebildeten fossilen Rohstoffs. So sind weitere Kapitel überschrieben mit „Der Kampf ums Erdöl im Ersten und Zweiten Weltkrieg“, „Die Suezkrise und die Angst vor Lieferunterbrüchen“, „Die erste und zweite Erdölkrise 1973“ sowie „Die Golfkriege“. Ganser beschreibt aber auch die Bedeutung des billigen Erdöls für den (Wieder)-Aufbau Europas, den Aufstieg der Erdölkonzerne („Macht der Kartelle“) sowie der Ölinfrastrukturen (Pipelines und Raffinerien) sowie die Versuche, den knapper werdenden Vorräten durch Ersatzstrategien (unkonventionelles Öl, Atomkraft) zu begegnen. Schließlich wendet sich der Autor möglichen Alternativen zu – von der 2000 Watt-Gesellschaft bis zum Ausbau der Erneuerbaren Energien. Der „Erdgasrausch“ werde nur ein  Intermezzo bis zum gänzlichen Übergang ins postfossile Zeitalter darstellen, so auch Gansers Überzeugung. Notwendig sei die Energiewende nicht zuletzt aus friedenspolitischen Gründen, denn der Autor befürchtet gewalttätige Konflikte um die restlichen Ölreserven. Die zwei größten Erdölverbrauchsländer – die USA und China – seien nicht zufällig jene Länder mit den größten Militärausgaben. „Die vor uns liegenden Aufgaben sind anspruchsvoll, denn just in dem Moment, in dem das konventionelle Erdöl das Fördermaximum erreicht hat, sind wir mehr Menschen auf dem blauen Planeten als je zuvor. Wie sollen Indien, China und Brasilien durch Industrialisierung den Wohlstand von Europa erreichen, wenn gerade jetzt Erdöl knapp und teuer wird?“ fragt der Autor (S. 333). Wer auf Gewalt setzt und bereit ist, für das Erbeuten von Erdöl und Erdgas zu töten, könne sich strategische Vorteile verschaffen. Doch das Grundproblem, dass in verschiedenen Ländern die Erdölförderung einbricht, lasse sich mit Gewalt niemals lösen, ist Ganser überzeugt: „Es gilt daher, Ressourcenkriege zu vermeiden, Konflikte, wo immer möglich, ohne Gewalt zu lösen und die verfügbaren Mittel für die Energiewende einzusetzen. Nur erneuerbare Energien können letztendlich aus der Knappheit führen, weil sie über Generationen zur Verfügung stehen.“ (S. 334) Ein höchst informativer Band eines Wirtschaftshistorikers, der deutlich macht, dass unser Wohlstand ohne Erdöl nicht denkbar wäre und dass eine frühzeitige Überwindung der daraus resultierenden Abhängigkeit wesentlich über den Frieden im 21. Jahrhundert mitentscheiden wird. H. H.

 

 Ganser, Daniele: Europa im Erdölrausch. Die Folgen einer gefährlichen Abhängigkeit. Zürich: Orell Füssli, 2012. 415 S., € 24,95 [D], 25,70 [A], sFr 34,90

 

ISBN 978-3-280-05474-1