Richard Sennett

Die offene Stadt

Ausgabe: 2020 | 1
Die offene Stadt

„Die gebaute Umwelt ist eine Sache; wie die Menschen wohnen, eine andere“, so Richard Sennett in seiner umfangreichen Abhandlung über die Soziologie der Stadt (S. 9). Das Buch gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Stadt als Ort des pulsierenden Lebens und der gesellschaftlichen Veränderung bis hin zur Stadt als Überforderung des Menschen in der Dichte und Gedrängtheit des Zusammenleben-Müssens. Die Abhandlung zeigt auch die unterschiedlichen Ansätze der Stadtplanung – vom Versuch, die Stadt am Reißbrett zu entwickeln bis hin zur Stadt als etwas, das organisch wächst und wachsen muss. Verfassern der Charta von Athen wie Le Corbusier, einem führenden Architekten der 1930er-Jahre, oder Victor Gruen, dem Vater des Einkaufszentrums, die von der durchgeplanten Stadt träumten, stellt der Autor Stimmen wie Jane Jacobs oder Luis Mumford gegenüber, bei denen „die gelebte Komplexität der Stadt Eingang in deren gebaute Form fand“ (S. 101).

Sennett stellt sich auf die Seite derjenigen, die Stadt als lebenden Organismus begreifen, als etwas Wachsendes und sich ständig Veränderndes. Er spricht daher von der „offenen Stadt“ und der Unterscheidung der „ville“, der gebauten Stadt, von der „cité“ zur Kennzeichnung der Lebensweise, „der Haltung der Bewohner gegenüber Nachbarn und Fremden und der Bindung an einen Ort“ (S. 9). Sennett weiß, dass die Idee des organischen Wachsens von Städten auf die heutigen Megacities in den Ländern des Südens nicht mehr zutrifft. Der Zustrom neuer BewohnerInnen in Städten wie Mexico City, Sao Paulo, Lagos, Shanghai und Delhi gleiche mehr einer „Springflut“, bedingt durch starkes Bevölkerungswachstum sowie Verschlechterung der Lebensbedingungen am Land etwa durch Landraub. 65 Prozent der indischen Stadtbewohner in den jüngeren Generationen seien „unfreiwillige Zuwanderer“. Von den Megacities zu unterscheiden seien, so Sennett, die „Global Cities“ – ein Begriff den die Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin Saskia Sassen geprägt hat. „Sie repräsentieren ein internationales Netzwerk des Geldes und der Macht, das sich nur schwer lokalisieren lässt.“ (S. 128)

Im zweiten Teil des Buches greift Sennett viele Facetten der Stadt auf und schwirrt assoziativ in der Welt und den Disziplinen herum – vom Versuch chinesischer Stadtplaner, neue bewohnbare Orte für Millionen von Menschen zu schaffen, über die Flucht Martin Heideggers aus der Stadt, die zugleich eine des „Nazi-Direktors der Universität Freiburg“ (S. 158) vor politischer Verantwortung gewesen sei, bis hin zum Googleplex in New York als neuem Ghetto digitaler Hipsters. „Das Googleplex befindet sich in der Stadt, gehört jedoch nicht dazu.“ (S. 186) All diese Beispiele sollen zeigen, „wie die Stadt zu einer Verarmung der menschlichen Erfahrung führen kann“ (S. 213).

Im dritten Teil des Buches zeigt Sennett Beispiele, wie gebaute Stadt und gelebte Stadt wieder zu einander finden können. Etwa durch Aufwertung benachteiligter Stadtteile, wie die Parque Biblioteca Espana in Medellin, ein moderner Bau, der mitten in einem Slum errichtet wurde, die multifunktionale Durchmischung in öffentlichen Räumen, in denen synchron Unterschiedliches stattfindet, oder die bewusste Gestaltung von Plätzen und Straßen mit Grünflächen und Sitzmöglichkeiten. Anders als der Soziologe und Philosoph Georg Simmel, der die Stadt als anonymisierenden Moloch sah, setzt Sennett darauf, dass in der Stadt Sozialität und Zusammenarbeit gedeihen können, wenn den Menschen Möglichkeiten dazu eröffnet werden. Dies müsse auch in Planungsprozessen durch Einbau partizipativer Verfahren berücksichtigt werden – im Sinne von „Koproduktion“ von Stadt (S. 324); so entstünden „durch Bauen und Herstellen geschaffene Bande“ (S. 299).

Im vierten Teil über eine „Ethik für die Stadt“ geht Sennett schließlich auf Herausforderungen an das Leben in der Stadt durch Umweltverschmutzung und Klimaveränderungen ein. Vielfalt statt Homogenität sei auch hier von Vorteil, denn „eine offene Stadt [lässt] sich leichter reparieren als eine geschlossene“ (S. 354).

Sennett spricht viele Facetten von Stadt an. Wer sich auf die Erzählungen des Autors, der selbst als Soziologe in der Stadtplanung tätig war, einlässt, wird dieses mit Gewinn lesen. Nicht zu erwarten sind rasche, präzise Handlungsanleitungen.