Das Wörterbuch der 90iger Jahre

Ausgabe: 1991 | 4

Aus der Traum. Mit dem Fall der DDR zerfiel gewissermaßen auch die alte Bundesrepublik. Das "Wörterbuch ", begonnen vor dem Fall der Mauer, wurde zum Schwanengesang auf die bundesdeutsche Generation der 68iger, auf Revolte und erneuter Stagnation, auf Beziehungskisten, Selbsterfahrungsgruppen und die "Wonnen der Wehleidigkeit". Horx hat ein Gesellschaftspanorama in Form eines "Breviers" verfasst ein Alphabet der Post-Moderne in 25 Kapiteln von "Aberglaube" über "Ficus Benjamini "bis "Zivilisation". Die 68iger haben, und das gründlich, mit Wertvorstellungen und gesellschaftlichen Strukturen ihrer EItern aufgeräumt. Sie haben dies mit deutscher Gründlichkeit getan, haben hartnäckig alles hinterfragt und durchdiskutiert, unermüdlich auf der Suche nach der letzten gesellschaftlichen Wahrheit. Dieser "deutsche Idealismus hat mit der nicht ausrottbaren Stimme in unserem Innern zu tun, die unaufhörlich nur einen einzigen Satz von sich gibt: Wir sind tiefer". Und jetzt? Welche „pax emanzipatorica" wurde in all den Kämpfen errungen? Emanzipation ohne Ende, konstatiert Horx trocken, wird zu einem "ziel- und sinnlosen ,Weiter', zu einer ewigen Flucht". Diese Suche um ihrer selbst willen fand 1989 ein jähes Ende, als auf einmal 20 Millionen "Ossis" an die verrammelte Tür klopften: ein hässliches Erwachen, zugleich aber auch eine Chance. "Warum das neue Deutschland hart, ehrlich und hoffnungslos sein wird und die Mission der kritischen Querulanten beendet ist", überschreibt der Autor das letzte Kapitel, in dem er eine Silvesterfeier zur Jahrtausendwende beschreibt, in der sie alle, alle noch einmal gemeinsam das Glas erheben: M., der Ex-Klassenkämpfer gegen die bürgerliche Kultur, G., die den "Untergang des Patriarchats" herbeischrieb, und S., der die "real herrschende Entfremdung im Kapitalismus durch die Kraft der Erde" transzendieren wollte. Horx, selbst einer der ihren, beschreibt sie ironisch, mitunter sarkastisch, rechnet schonungslos mit ihnen ab, doch nie ohne Mitgefühl. Sein Buch ist ein sensibles Portrait einer unaufhaltsam zu Ende gehenden Epoche. Rückblickend wird man von diesem „neuen Deutschland" am 31.12.99 sagen: "Es ist eine ganz normale, hoffnungslose, verquere, bunte, unlösbare Gesellschaft geworden, wie sie auf einem entsprechenden Planeten heute sein muss". 

Horx, Matthias: Das Wörterbuch der 90iger Jahre. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1991.304 S., DM 32,-1 sFr 27,101 öS 249,60