Das Glück der Unerreichbarkeit

Ausgabe: 2007 | 4

Immer und überall erreichbar zu sein, gehört heute zum guten Ton. Via Handy, E-Mail, SMS und Internet kommunizieren wir unabhängig von Raum und Zeit. „Es gibt immer weniger persönliche Gespräche, sogar die Zahl der Telefongespräche sinkt zugunsten von SMS und Mail.“ (Interview mit der Autorin, s. u.) Sich darüber hinaus auch noch verständigen zu können, scheint eine der großen Herausforderungen der Gegenwart zu sein. Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel präsentiert dazu im vorliegenden Band ihre überaus unterhaltsamen und sehr persönlichen (wenngleich nicht immer neuen) Einsichten.. Ihrer Meinung nach machen wir uns selbst zum Sklaven der Technik und deshalb geht sie der Frage nach, was diese Abhängigkeiten von der technischen Vernetzung für den einzelnen Menschen bedeuten und wie wir Abhilfe schaffen können. Auf jeden Fall liege es an uns selbst, nicht ständig auf Standby zu sein. Wir dürften nicht erlauben, dass die Technik unser Leben beherrscht, „anstatt selbst zu bestimmen, wie wir diese Technik sinnvoll und produktiv einsetzen wollen“ (S. 25).

 

Der Zukunftsforscher Alvin Toffler sprach schon 1970 (in „Der Zukunftsschock“) vom Tatbestand der Informationsüberflutung. Seither ist die Menge an Informationen stetig angewachsen und die Möglichkeiten des Zugriffs auf diese Informationen wurden immens erweitert. Eine Forschergruppe der „School of Information Management and Systems“ an der Universität Berkeley hat errechnet, dass im Jahr 2002 etwa fünf Exabyte an neuen Daten – also zusätzlich zu den bereits vorhanden – auf physikalischen Datenträgern (Print, Film, magnetische und optische Speichermedien) gespeichert wurden. Ein Größenvergleich veranschaulicht die Menge, von der hier die Rede ist: Wenn man die neunzehn Millionen Bücher und anderen Archivdokumente der Kongressbibliothek zu Washington digitalisieren könnte, dann käme man auf etwa zehn Terabyte Daten, das ist der einmillionste Teil eines Exabyte. (vgl. dazu S. 33) Allein zwischen 1999 und 2002 ist die Menge der auf Papier gespeicherten Informationen um36 Prozent gestiegen. In den Büros werden weltweit pro Jahr fast 700 Mia. Seiten unnötig gedruckt. Und die Informationen, die wir alltäglich bewältigen müssen, wachsen weiter an. Die zur Verfügung stehende Zeit aber, um diese Informationen zu sortieren und zu verarbeiten, bleibt gleich, „also müssen immer mehr Informationen aufgenommen und immer mehr Aufgaben in gleicher Zeit gelöst werden“ (S. 81). Dieses so genannte Multitasking beeinflusst durch permanente Überlastung die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns. Zudem zeigt die Gehirnforschung, dass wir mehrere Dinge nicht wirklich gleichzeitig machen können. (vgl. Interview der Autorin v. Thomas Borchert u. Dirk Liedtke in: stern.de. 39/2007) [Selbst Computer können einzelne Aufgaben nur nach einander erledigen, wenn auch in rasender Geschwindigkeit.]

 

Ein weiteres Phänomen, das von der Autorin angesprochen wird, ist die „Unterbrechungsunkultur“. Im Durchschnitt kann sich ein Mensch im Büro zweieinhalb Minuten auf eine Sache konzentrieren, bevor er unterbrochen wird, durch einen Anruf, von einem Kollegen, durch eine E-Mail. In den USA hat man den dadurch entstandenen volkswirtschaftlichen Schaden mit ca. 600 Mrd. Dollar pro Jahr beziffert.

 

Das Dauerfeuer der Kommunikation, die Überbeanspruchung durch den Informationsinput machen zudem unruhig und krank. Die Folge ist das Informationsermüdungssyndrom. Es äußert sich etwa durch schlechte Laune, Kopfschmerzen und Blutdruckprobleme bis hin zu Herzrhythmusstörungen und Burn-out. Deshalb brauchen wir im Umgang mit den Informationslasten, Reflexions- und Vertiefungspausen, sonst folgt auf die Datenflut unweigerlich die Denkebbe. Gelingt es nicht gegenzusteuern, so laufen wir Gefahr, eine Entwicklung mitzuerleben, die das „American Life Project“ in einem Szenario zum Internet 2020 als Ergebnis einer Befragung von knapp 750 Experten für möglich hält. Ein Großteil war der Meinung, es werde sich Widerstand entwickeln, eine so genannte Klasse von Technologieverweigerern werde am Rande der modernen vernetzten Gesellschaft leben und einzelne von ihnen werden sogar terroristische Anti-Technologie-Attacken gegen den Rest der Gesellschaft begehen. (vgl. S. 50f.)

 

Zweifellos ist Erreichbarkeit heute wichtig. Die Autorin plädiert aber zur Recht dafür, sich wiederZeit zu nehmen. Die Lösung für gelingende Kommunikation liegt in „kluger Unerreichbarkeit“. A. A.

 

Meckel, Miriam: Das Glück der Unerreichbarkeit. Wege aus der Kommunikationsfalle.  Hamburg: Murmann, 2007.  272 S., € 18,- [D], 18,55 [A], sFr 31,50

 

ISBN 978-3-86774-002-9