Björn Vedder

Reicher Pöbel

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Reicher Pöbel

Stellen Sie sich eine Kneipe vor, in der es eine Jukebox gibt, mit der die Gäste, ohne ein Entgelt bezahlen zu müssen, verschiedene Songtitel abspielen können. Häufig kommt es vor, dass sich einzelne Stammgäste durch die sich wiederholenden Musikwünsche gestört fühlen. Manchmal möchten auch sie die Musik bestimmen. Um den immer wieder aufflammenden Streit zwischen einzelnen Gästen zu verhindern, führt die Wirtin schließlich eine Jukebox-Gebühr ein. Wer die Musik bestimmen will, muss bezahlen. Wie es der Zufall so will, entdecken die zwei reichsten Personen im Ort das Lokal für sich. Hier läuft von nun an die Musik ihrer Wahl und aufgrund ihrer Investitionen bekommen sie auch immer wieder Gratis-Drinks. Kurz gesagt: Die beiden erkaufen sich die Freiheit, im Lokal zu tun und zu lassen, was sie wollen, während die restlichen Gäste ständig den Kürzeren ziehen. Es dauert nicht lange, bis die beiden den Groll der gesamten Kneipe auf sich gezogen haben.

Diese Anekdote, die aus Björn Vedders Buch „Reicher Pöbel“ stammt (siehe S. 61ff.), verdeutlicht in anschaulicher Weise das Thema, das der Autor aufgreift: Laut Vedder gibt es seit einiger Zeit eine relativ kleine Gruppe von Menschen, die –  auf der Grundlage ihres Vermögens – dazu neigen, ihre Interessen nahezu hemmungslos durchzusetzen. In manchen Fällen geschieht dies ausdrücklich mit einem Gestus der Überlegenheit oder mit Berufung auf das Recht des Stärkeren. Diese Gruppe, die Vedder nach Hegel den „reichen Pöbel“ nennt, stößt bei den meisten Menschen der Unter- und Mittelschicht auf Ablehnung, wenn nicht sogar auf Hass. Vedder führt dies – so wie es häufig im Alltag passiert – jedoch nicht auf eine Charakterschwäche von reichen Personen zurück. Es ist vielmehr unsere bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, die den reichen Pöbel hervorbringt.

Vedder gesteht dem Kapitalismus durchwegs zivilisierende Wirkung zu. Denn dadurch, dass der Markt die Menschen durch Produktion und Tausch in Beziehung und in Abhängigkeit zueinander setzt, müssen sie ihre Leidenschaften zügeln und ein gewisses Maß an Sittlichkeit an den Tag legen. (vgl. S. 54ff.) In einer Gesellschaft, in der u. a. durch die Förderung des Eigeninteresses und der schier unendlichen Möglichkeit Kapital zu akkumulieren dominiert, wird es jedoch immer wieder Personen geben, die sich von der beschriebenen Abhängigkeit lossagen können. Allzu oft entwickeln diese Personen eine Haltung der Überheblichkeit und des sozialen Desinteresses (vgl. S. 74ff.). Geraten nun jene, die weniger oder gar kein Vermögen besitzen, u. a. wegen verschärfter Konkurrenzbedingungen zunehmend unter Druck, projizieren sie ihren Groll umso mehr auf die Gruppe der Reichen. In vielen Fällen hat die Empörung über die Reichen laut Vedder durchaus ein berechtigtes Element, z. B. wenn die Schwäche anderer vom Pöbel gnadenlos ausgenützt wird. Dennoch bleibt es im Wesentlichen ein neiderfülltes Ressentiment. Aber warum? Vedder greift hier eine Argumentation auf, die in Teilen der Marx’schen Theorietradition verbreitet ist und dort unter dem Schlagwort der „verkürzten Kapitalismuskritik“ firmiert.

Wenn es wahr ist, dass die kapitalistischen Strukturen sowohl den reichen Pöbel als auch die Mittelschicht sowie das Prekariat erschaffen, wäre es der Kapitalismus als Ganzes, der einer umfassenden Kritik unterzogen werden müsste. Demnach dürfte man sich nicht nur über das Verhalten des Pöbels empören, sondern müsste sich politische Strategien zur Überwindung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse überlegen (vgl. S. 95). Psychische Projektionen und personalisierende Schuldzuweisungen torpedieren jedoch die Initiierung sinnvoller Strategien; denn diese Form ressentimentgeladener Vorurteile spalten die strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheit ab und projizieren alles Negative auf einzelne Personen oder Personengruppen (vgl. S. 94). Dadurch, dass die Mehrheit die Verantwortung für die gesellschaftlichen Zustände bei den Reichen sucht, werden die eigenen Verstrickungen in die ausbeuterischen Strukturen – v. a. auf globaler Ebene – verschleiert und unsichtbar gemacht. Laut Vedder ist es v. a. das Bildungs- und Besitzbürgertum, die sog. „neue Mitte“, die durch die Dämonisierung des reichen Pöbels davon ablenkt, dass es Nutznießer der bestehenden Verhältnisse ist. Diese Gruppe leistet sich auf der Grundlage ihrer gesellschaftlichen Position alle Annehmlichkeiten und stellt – durch die Darstellung ihrer Ressentiments – ihre vermeintliche moralische Überlegenheit gegenüber benachteiligten Schichten zur Schau.

Die moralisierende Politik der „neuen Mitte“ beginnt sich laut Vedder bereits zu rächen. Sozial benachteiligte Personengruppen beginnen ein implizites Bündnis mit dem reichen Pöbel zu schließen. Sie nehmen die Kürzungspolitik rechtspopulistischer Parteien in Kauf, nur um dem „Mittelstand“ und seiner Überheblichkeit den Garaus zu machen. (vgl. S. 137ff.) Zusätzlich werden diese Konflikte von Demagogen aufgegriffen und verstärkt. Vedder kommt zum Schluss, dass sich die Klagen über den reichen Pöbel – zumindest zum Großteil – als „Heuchelei“ (S. 96) herausstellen. Politische und gesellschaftliche Veränderungen sind derzeit nicht in Sichtweite; im Gegenteil: In Anbetracht der politischen Entwicklungen in Europa und anderswo geht Vedder davon aus, dass sich die Situation sogar noch verschlimmern wird. So schreibt der Autor: „[D]ie Ahnung der Dinge, die noch kommen werden, tragen wie ein dunkler Unterstrom die Hoffnungslosigkeit und das Ressentiment dieser Tage“ (S. 169).