Thomas Beschorner

In schwindelerregender Gesellschaft

Ausgabe: 2020 | 1
In schwindelerregender Gesellschaft

Unsere Gesellschaft ist unübersichtlich geworden. Scheint irgendwie aus den Fugen geraten. Sie „ist schwindelerregend geworden“ (S. 7). Das Wortspiel mit dem Begriff Schwindel bildet die verbindende Metapher der Zeitdiagnosen, die der Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner in seinem kleinen Buch anbietet – in einem doppelten Sinn: Nicht nur die Gesellschaft mit ihren systematischen Schieflagen ist schwindelerregend geworden, ihre Unübersichtlichkeit und Komplexität ruft auch Schwindler auf den Plan, die mit einfachen Antworten die Menschen hinters Licht führen. In der Tat hat der Schwindel als Gleichgewichts- wie als Wahrheitsstörung dieselbe Wortwurzel, wie der Autor in Grimms Wörterbuch nachschlagend zeigt.

Schwindlig machen kann einen auch die Heterogenität der 24 Kapitel des Buchs, die sich wie eine Achterbahnfahrt durch die Gesellschaft lesen. Sie rühren allesamt an brennende Themen unserer Zeit: Der überforderte Mensch, die Erosion der Gesellschaft, fluide Identitäten, die Schwierigkeiten der Wirtschaft mit der Moral, die Blindheit der zugehörigen Wissenschaft, künstliche Intelligenz und natürliche Dummheit sowie Populismus und erschwindelte Behauptungen sind einige der behandelten Themen. Die Texte sind zwar bereits als Zeitschriften- oder Blogbeiträge erschienen, wurden aber nicht nur aneinandergereiht, sondern redaktionell bearbeitet und miteinander verschränkt. Vorbildlich.

Drei Diagnosen Beschorners stechen hervor: Erstens sagt er: Wir befinden uns in einer „liminalen Periode“, einer Zeit des Übergangs, in der herrschende Ordnungs- und Regelungsprinzipien ihre Gültigkeit verlieren. „Die Welt verflüssigt sich.“ (S. 24) Zweitens bildet sich ein „neues Ich“ heraus, das „seine Identität aktiv sucht, gestaltet und in den Lebensmittelpunkt stellt“, gleichwohl aber keine stabile, sondern nur eine fluide Identität herauszubilden vermag (S. 31). Drittens braucht es dringend neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe, braucht es soziale Experimente, um dieses flatterhafte neue Ich in die Gesellschaft einzubinden. Und zugleich den Schwindlern Einhalt zu gebieten.

Dieses Buch zeigt, dass sich auch gesellschaftlich wichtige Fragestellungen zeitgemäß und ansprechend aufbereiten lassen. Das ist Gesellschaftstheorie, frisch präsentiert, auf der Höhe der Zeit, aber ohne dröge Theorielastigkeit. Beschorner stellt Fragen, ohne vorschnell Lösungen hervorzuzaubern. Mehr davon!