Erfahrungen eines Sterbehelfers

Ausgabe: 2016 | 1

letztehilfeDer in Berlin lebende Mediziner Uwe-Christian Arnold wird polarisieren. Er gehört in Deutschland zu jenen wenigen Ärzten, die sich dazu bekennen, Sterbehilfe zu leisten. Damit ist er Außenseiter, und doch weiß er, dass er bei dem, was er tut, auf Verständnis zählen kann: „87 % der Deutschen meinen“, so der Autor gleich zu Beginn seiner Streitschrift, „dass der einzelne Mensch selbst bestimmen darf, wann und wie er sterben möchte. Immerhin 77 % können sich vorstellen, persönlich Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie unter einer unheilbaren Krankheit, schwerer Invalidität oder nicht beherrschbaren Schmerzen leiden.“ (S. 9) „In einem weltanschaulich neutralen Staat gibt es keine ‚Pflicht zum Leben‘, postuliert Arnold, “und absolut niemand, kein Arzt, kein Jurist, kein Pflegedienst, kein Pharmakonzern ist dazu befugt, sich Ihrem Sterbewunsch in den Weg zu stellen, sofern Sie Ihren Willen unmissverständlich, freiwillig und bei klarem Verstand äußern!“ (S. 11).

Was ist der Ärzte Pflicht?

Damit nicht genug, denn Arnold „klagt die verfasste deutsche Ärzteschaft folgerichtig der fortgesetzten unterlassenen Hilfestellung an“; er hält es für eine „durch nichts zu rechtfertigende Schande, dass Ärzte ihre Patienten gerade dann im Stich lassen, wenn sie Hilfe am dringendsten benötigen“, und sieht darin „eine Feigheit vor dem Patienten, die (…) mit dem ärztlichen Berufsethos nicht in Einklang zu bringen ist“ (S. 13). Im Folgenden berichtet Arnold anhand vieler konkreter Beispiele aus der „Praxis eines Sterbehelfers“ und erläutert u. a. die Bedeutung der „moderierten Garantenpflicht“, einem in Deutschland gültigen Dokument, das es dem Arzt ermöglicht, den Sterbeprozess eines Todeswilligen zum Beispiel auch im Fall von dessen Bewusstlosigkeit zu begleiten. Dass nicht zuletzt Ärzte selbst für sich in Anspruch nehmen, ihr Sterben selbstbestimmt zu gestalten, dieses Recht aber dem Patienten vorenthalten, hält der Autor für „in höchstem Maße unethisch“ (S. 40). Ohne Scheu berichtet Arnold, wie er zu „Dr. Tod“ wurde, wie er in einer zunehmend technokratisch geprägten Medizin immer wieder die Erfahrung machte, dass „Sterben und Tod sehr wohl als ‚angenehm‘ und ‚beglückend‘ empfunden werden können, wenn der Patient es ‚endlich geschafft‘ hatte“ (S. 47). Ausführlich beschreibt er die Genese und Praxis der in der Schweiz tätigen Sterbehilfeorganisationen „EXIT“ und die „Dignitas“, wobei Letztere auch Ausländern offensteht. Zwischen 1999 und 2013 haben Menschen aus 40 Nationen diesen Weg aus dem Leben gewählt; mit 56,15 Prozent nehmen dabei deutsche Staatsbürger unangefochten den ersten Platz ein (vgl. S 62f.). In einem weiteren Kapitel werden die Einwände der Gegner selbstbestimmten Sterbens kritisch unter die Lupe genommen: die historische Konnotation des hippokratischen Eides (für den Autor völlig unzeitgemäß und überholt), das „Genfer Gelöbnis“ des Weltärztebundes oder auch eine Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach aus 2009/2010 im Auftrag der Bundesärztekammer werden diskutiert. In letztgenannter Befragung waren z. B. 68 % der Gegner der Suizidhilfe der Meinung, dass ÄrztInnen „eine zu hohe Bürde aufgelastet würde, wenn sie vermehrt mit den Sterbewünschen der Patienten konfrontiert würden“ (S. 99). Während nur 38 Prozent der Befragten meinten, „dass der Sterbewunsch des Patienten für den Arzt in irgendeiner Form verbindlich sei“ (S. 101), sprachen sich nur 5 Prozent der Mediziner dagegen aus, „lebensverlängernde Maßnahmen auf Wunsch des Patienten einzustellen (74 Prozent waren klar dafür, 21 Prozent meinten, es komme auf die konkreten Umstände an) …“ (S. 107). Ein weiteres brisantes Thema tangiert Arnold mit der spezialisierten, ambulanten Palliativversorgung (SAPV). In Deutschland gebe es aktuell einen Bedarf von ca. 90.000 Klienten pro Jahr; dies ergebe bei einem Tagessatz von 300 € und einer Betreuungsdauer von 28 Tagen einen Jahresumsatz von insgesamt 750 Millionen €. Verglichen mit den rund 7 Milliarden €, die deutsche Krankenkassen für Medikamente in der letzten Lebensphase aufzubringen haben, sei dies ein geradezu bescheidener, überschaubarer Betrag, argumentiert Arnold (vgl. S. 117).

Dezidiert wendet sich der Autor gegen die These, dass die assistierte Sterbebegleitung einer Entsolidarisierung der Gesellschaft Vorschub leisten würde, und führt in diesem Zusammenhang die gesetzliche Regelung im US-Bundesstaat Oregon an (Kapitel 5); er bietet unter dem Titel „Das Kreuz mit der Kirche“ einen kurzen Abriss zur Kulturgeschichte des Suizides (von Epikur über Augustinus und Nietzsche bis zu Hans Küng) und macht darauf aufmerksam, dass 83 % der Protestanten und 86 % der Katholiken in Deutschland meinen, dass ein unheilbar Kranker das Recht zu sterben haben sollte, wenn er dies ausdrücklich wünscht (S. 153).

Sterbehilfe als Lebenshilfe

Im abschließenden dritten Teil beschreibt Arnold, wie ein Gesundheitssystem aussähe, „das Letzte-Hilfe-Leistungen konsequent in den Dienst der Patienten stellt”. Einmal mehr definiert er Sterbehilfe als Lebenshilfe, macht aber auch deutlich, wie konsequent Menschen in unserer Gesellschaft den Tod suchen: 13.000 Suizidtoten (mehr als das Dreifache der Verkehrstoten) stehen in Deutschland 200.000 Suizidverletzte pro Jahr gegenüber (S. 179). Um hier wirkungsvoll gegenzusteuern, plädiert der Autor für die Legalisierung der „ergebnisoffenen Suizidberatung“(S. 181). Um hier voranzukommen, bedürfe es einer „neuen Kultur des Sterbens“, ist Arnold überzeugt und erinnert an den Suizid des Berliner Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, der sich bewusst das Leben nahm, solange er dazu noch in der Lage war. Auf dem Weg zum Lebensende sollten wir – so der gänzlich unaufgeregt und sachlich fundiert argumentierende Autor –, mit Epikur sprechend, die uns geschenkten Tage schätzen: Carpe diem!

Arnold, Uwe-Christian: Letzte Hilfe. Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben. Unter Mitarbeit von Michael Schmidt-Salomon. Hamburg: Rowohlt, 2014. 240 S., € 19,50 [D], 20,10 [A] ; ISBN 978-3-48-09617-5