Urbane Subsistenz

Ausgabe: 2008 | 4

„Wohlstand für alle“ war einst die Devise der deutschen Wirtschaft. Das Buch zum Spruch erschien 1957 und stammt von Ludwig Erhard, der selbst zur Ikone des deutschen Wirtschaftswunders wurde. „Nachhaltigkeit schafft neuen Wohlstand“ titelt auch der Bericht der Global Marshall Plan- Initiative an den Club of Rome aus dem Jahr 2004. Wie aber schaffen wir esheute, Wohlstand zukunftsfähig zu gestalten, in einer Zeit in der es immer weniger Erwerbsarbeit für alle gibt? Und wie verbessern wir den gleichberechtigten Zugang zu den Marktgütern und den marktfreien Gütern, die nicht zu kaufen sind? Die heutigen Formen der industriellen Güterproduktion und des Konsums beuten nicht nur die Ökosysteme aus, - der Klimawandel ist messbarer Ausdruck nicht nachhaltiger Produktions- und Konsummuster -, sondern unterminieren auch Sozialsysteme, wenn ihre Funktion allein darin besteht, der Vermehrung der Warenproduktion zu dienen. Diese soziale Dimension von Nachhaltigkeit zeigt sich in „der Bereitstellung von marktfreien Gütern – von selbstbestimmter Entfaltung guter, gesunder Lebensführung; von menschlicher Zuwendung und sozialer Eingebundenheit; von Unabhängigkeit und Sicherheit; von gemeinschaftsbezogenem Handeln und gemeinnützigem Einsatz für Angelegenheiten der Öffentlichkeit, der Regionen, Kommunen, Schulen und sozialen Gruppen“ (S.9). Sie werden in Familie, in Nachbarschaft, in Kommunen und Gemeinden hervorgebracht und sind nötiger denn je – vor allem in den urbanen Räumen. Aber, und hier setzt die Kritik an bzw. ist die Motivation begründet, die zur Entstehung des vorliegenden Bandes geführt hat: Gegenwärtig finde gemeinnütziger Einsatz für die Öffentlichkeit zu wenig bzw. keine angemessene Beachtung, weil das Verständnis für unbezahlte, freiwillige und ehrenamtliche Arbeit geschwunden ist. Dies wollen die Autoren, Daniel Dahm (Mitarbeiter des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie) und Gerhard Scherhorn (emerit. Prof. für Konsumökonomik), die sich seit Jahren mit der freiwilligen, unbezahlten Arbeit beschäftigen, ändern. Freiwilligenarbeit unter die Lupe genommen Empirisch untersucht werden Initiativen, Arbeitskreise, Vereine sowie NGOs in Berlin, Köln und Stuttgart, die sich sozialen und soziokulturellen Bedürfnissen widmen und so zur Linderung sozialer Probleme, der Bereitstellung kultureller Angebote und der Gemeinwesenarbeit beitragen. Das Besondere daran ist aber, dass dabei jeweils ehrenamtliche, freiwillige, selbstbestimmte Bürgerarbeit die hauptamtliche Arbeit nicht nur flankiert, sondern dass umgekehrt die hauptamtlichen Tätigkeiten vorrangig der Unterstützung der Ehrenamtlichen dienen, so dass die gesamte Einrichtung vom Prinzip des bürgerschaftlichen Engagements geprägt ist. (vgl. S. 214) Um die Größenverhältnisse zu verdeutlichen, fassen die Autoren die verfügbaren statistischen Daten zusammen: In Deutschland „hat die Eigen- und Versorgungsarbeit (…) mit 83 Mrd. Stunden einen anderthalbmal so großen Zeitbedarf wie die privatwirtschaftliche Berufsarbeit mit 55,5 Mrd., die Bürger- und Gemeinschaftsarbeit hat mit 5 Mrd. mehr als den gleichen Umfang wie die Berufsarbeit im öffentlichen Bereich mit 4,5 Mrd. Stunden.“ (vgl. S. 56) Die Analyse legt dar, dass sich ein großer Teil der Subsistenzarbeit nicht durch Erwerbsarbeit ersetzen ließe, selbst wenn ausreichende Gelder vorhanden wären. Die bürgerschaftlichen Einrichtungen, so ein weiterer Befund der Studie, prägen zudem städtische Sozial- und Wirtschaftsräume in hohem Maß und bilden somit einen wesentlichen infrastrukturellen Faktor der Städte. Ein Beispiel aus Stuttgart verdeutlicht das Miteinander von öffentlichen, bezahlten und der freiwilligen, unbezahlten Systeme. Die Praxis zeigt auch, dass wir es in der Realität mit einer Mischung von Versorgungssystemen zu tun haben. Thematisiert werden aber nicht nur die Vielfalt von Einrichtungen der Bürgerarbeit – in Stuttgart arbeiten beispielsweise über 9000 Menschen auf freiwilliger Basis in Sozialeinrichtungen und werden dabei von 1.500 Hauptamtlichen unterstützt - , sondern auch deren Qualitätskriterien, wobei die Autoren betonen, dass die Leistungen der informellen Arbeit grundsätzlich am Gebrauchswert und nicht am Tauschwert orientiert sind. Darüber hinaus werden anhand von Beispielen – etwa der Friedrichshainer „Begegnungsstätte für Kindheit“ – die räumlichen, baulichen und institutionellen Rahmenbedingungen von sogenannten „Mental Maps“ dargestellt. Diese Karten wurden im Rahmen qualitativer Interviews mit RepräsentantInnen bürgerschaftlicher Einrichtungen angefertigt und bilden somit subjektive Befunde sozialräumlicher Handlungsmuster, Interaktionen und Wahrnehmungen ab. Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung zeigt die Anpassungsfähigkeit der Städte an sich ändernde Nutzungs-, Versorgungs- und Gestaltungsanforderungen. Der Grad des Engagements hängt dennoch wesentlich davon ab, ob und wie der Stadtraum und die Infrastruktur ausreichende Möglichkeiten für die zivilgesellschaftliche Beteiligung von Bürgern bieten. Oft, so bedauern die Autoren, engagieren sich Menschen weniger als sie grundsätzlich dazu bereit wären, weil sie den Eindruck haben, sowieso nichts bewirken zu können. Hier ist – so nicht nur die Autoren – in erster Linie die die Politik gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Der ambitionierte Band bietet dazu für alle beteiligten Akteure eine wichtige Grundlage und Anregung. A. A.

 

Dahm, Daniel ; Scherhorn, Gerhard: Urbane Subsistenz. Die zweite Quelle des Wohlstands. München: oekom-Verl., 2008. 239 S., € 20,60 [D], 21,20 [A], sFr 36,05 ISBN 978-3-86581-109-7