Fortschrittsgeschichten

Ausgabe: 2015 | 2

Um klassische Technikinnovationen geht es in dem in der Reihe „Forum für Verantwortung“ erschienenen Band „Fortschrittsgeschichten“ des Wissenschaftspublizisten Marcel Hänggi. Doch anders als die üblichen Erzählungen, die sozialen Wandel aufgrund technologischer Erfindungen beschreiben, zeigt der Autor auf, wie Technikinnovationen, ihre Verbreitung bzw. auch Vereitelung von politischen, sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst werden. Und er verweist darauf, dass entgegen landläufiger Meinung bei technischen Erfindungen beileibe nicht immer der Wunsch nach „Fortschritt“ Pate gestanden hat. So sei es nicht die Absicht Johannes Gutenbergs gewesen, billigere Bücher zu machen, um mehr Menschen den Genuss des Lesens zu ermöglichen, sondern schönere Editionen, die einem auserlesenen Zirkel vorbehalten bleiben sollten. Erst andere wie Martin Luther hätten den Buchdruck für ihre Ziele, etwa  der rascheren Verbreitung von reformerischen Inhalten, verwendet. Und die Dampfmaschine sei ursprünglich erfunden worden, um in den Barockgärten der feudalen Herrscher des 18. Jahrhunderts noch imposantere Wasserspiele zu kreieren. Erst später sei diese für industrielle Zwecke, das Abpumpen des Wassers aus Kohlegruben, verwendet worden. An der Dampfmaschine macht Hänggi auch deutlich, dass neue Erfindungen selten alte ersetzen, vielmehr würden sich diese addieren oder gar gegenseitig hochschaukeln. Die Dampfmaschine habe dazu geführt, dass der Energieverbrauch dramatisch anstieg. In grundsätzlicher Perspektive: „Die Moderne verbraucht mehr Stein als die Steinzeit, mehr Eisen als die Eisenzeit, mehr Kohle als das ´Kohlezeitalter´“ (S. 66), so Hänggi. Es gäbe daher keinen Grund anzunehmen, dass die aktuelle Förderung erneuerbarer Energie den Verbrauch nicht erneuerbarer Energien verdrängen würde, „solange diese nicht aktiv zurückgebunden werden“ (ebd.).

Linearer Fortschrittsbegriff

Dass eindeutig das Leben erleichternde Erfindungen oft lange brauch(t)en, um akzeptiert zu werden, macht Hänggi am Schwefeläther deutlich. Nur zögerlich hätten sich Ärzte darauf eingelassen, diese Form der Betäubung bei medizinischen Eingriffen anzuwenden und damit den Behandelten unnötige Schmerzen zu ersparen. Und nicht immer waren es technologische oder naturwissenschaftliche Erfindungen, die zu Fortschritten führten. Den Beginn der Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft datiert der Autor mit der Entdeckung der Leguminosen, die den Böden Stickstoff zuführten (lange bevor der Kunstdünger erfunden wurde), sowie mit der in der frühen Neuzeit einsetzenden Einhegung der Allmenden. Dass die „Grüne Revolution“ ohnedies eine zweischneidige Sache ist, belegt der Autor mit aktuellen Studien (selbst der Weltbank), die die Überwindung des Hungers vornehmlich von naturangepassten Anbaumethoden erwarten.

Als Beispiel dafür, dass die Durchsetzung von Erfindungen immer auch von ökonomischen Rahmensetzungen abhängt, schildert Hänggi schließlich den Umstand, dass die Eisenbahn in England erst reüssierte, nachdem der Getreidepreis (und damit der Treibstoff der Pferde) politisch hinaufgesetzt worden war. Ein anschauliches Beispiel für die Notwendigkeit von Ressourcensteuern!

Das Buch ist voll von spannenden und auch widersprüchlichen „Fortschrittsgeschichten“. Hänggi hinterfragt darin den „linearen Fortschrittsbegriff“ sowie den „Mythos des Fortschritts“. Erfindungen seien nicht per se gut oder schlecht: „Gegen Technik sein ist sinnlos, aber genauso sinnlos ist es, generell ´für Technik´ zu sein.“ (S. 34) Die Aussage, dass der Fortschritt nicht aufzuhalten sei, führe in die Irre. In der Geschichte hat es für den Autor zweifellos viele Fortschritte gegeben, doch diese ließen sich nicht zum ´Fortschritt´ im Singular summieren. So könnte es durchaus sein, dass sich die Frage nach dem Fortschritt in Zukunft negativ entscheidet: „Wenn die menschliche Zivilisation ihre eigenen Grundlagen zerstört.“ (S. 22) Bei allen Vorbehalten gegen den Fortschrittsbegriff kämen wir gerade dann nicht umhin, „Fortschritt anzustreben im Sinne einer Entwicklung, die das verhindert“ (ebd.). Hans Holzinger

Hänggi, Marcel: Fortschrittsgeschichten. Für einen guten Umgang mit Technik. Frankfurt/M.: Fischer, 2015. 303 S., € 12,99 [D], 13,40 [A] ISBN 978-3-596-03220-4