Das digitale Nirwana

Ausgabe: 1997 | 3

Welche Verheißungen der Netzwelt halten einem kritischen Blick stand? Ist sie nun sozialer Heilsbringer oder forciert sie den Prozeß der Singularisierung? Was bedeutet der Verlust an primärer Anschauung für unsere Urteilskraft, für das Entstehen von Kreativität und Phantasie? Diese Fragen versucht der Politik- und Sozialwissenschaftler Bernd Guggenberger zu klären, wenn er pointiert und umfassend den Zustand der neutechnologischer Formierung beschreibt. Kein Mausklick wird, so der Autor, mafiose Machenschaften aufdecken, Absprachen zwischen Mächtigen offenbaren, Innovationen vorzeitig ausplaudern. "Man wird die vielen, wie zu allen Zeiten, wissen lassen, was nichts kostet; und man wird ihnen, wie zu allen Zeiten, vorenthalten, was wichtig ist und die eigene Macht beeinträchtigen könnte." Ein Mehr vom Gleichen bedeutet an sich noch nicht Vielfalt und noch lange nicht demokratische Teilhabe und Kontrolle. Für Guggenberger bedeutet der "Eintritt ins digitale Nirwana der Ortlosigkeit" Abschied von Menschen und Dingen, von Orten und Landschaften, von Politik und Gesellschaft, aber auch von Herkunft und Zukunft. Gefragt sind nur mehr "User-Qualitäten" und eine gewisse Vertrautheit mit dem Insiderjargon - nicht mehr die "Äußerlichkeiten der Wirklichkeit". Zudem geht teleaktive Präsenz unvermeidlich auf Kosten der aktiven Beteiligung an der sozialen Nahwelt. Guggenbergers ebenso scharfe wie fundierte Kritik gipfelt in der Feststellung, daß nach der großen Umwelt- jetzt auch die große Selbstveränderung folgt. "Je weniger wir uns lebendig und sozial unmittelbar ,verausgaben', desto unvermeidlicher ist unser Bedarf an Produkten des second hand life." Und mit Blick auf die Nachhaltigkeitsdebatte vermutet er, daß die Gesellschaft längst nicht mehr auf Sparsamkeit. Umkehr oder Ressourcenschonung setzt. Vielmehr stehen die Weichen technologiepolitisch auf ungehemmter Beschleunigung. Zwar liefert Guggenberger keine Auswege aus dem digitalen Nirwana, es gelingt ihm aber vortrefflich, den Leser mit der Frage zu konfrontieren, ob er für seine Bedürfnisse pc und Internetanschluß wirklich braucht oder ob es nicht "die sirenengleichen Zwänge einer solchen erwartungsfrohen Voreingenommenheit und Parteilichkeit (sind), welche für die paradoxe Situation verantwortlich zeichnen, daß fast alle etwas zu brauchen glauben - und doch keiner so recht weiß, wofür': A. A.

Guggenberger, Bernd: Das digitale Nirwana. Hamburg: Rotbuch-Verl., 1997. 268 S., DM 36,- / sFr 34,- / öS  263,-