Essays über Sprache und Wissenschaft

Ausgabe: 1990 | 3

"Viele Symptome sind des Kranken Tod, und ich halte die herz- und geistlose Wissensexplosion unserer Zeit für ein höchst bedenkliches Symptom". Wo "fast jeder Edelstein der Wissenschaft ein Grabstein der Menschheit zu werden droht", ist nicht nur die Erkenntnismethode oder die voreilige Umsetzung des Wissens zu kritisieren. Chargaff geißelt vor allem auch den" Naturforscher, der nicht mehr die Fähigkeit besitzt, die immer höher werdenden Grenzmauern seines Fachs zu überspringen". Herz- und geistvoll, weit über die Grenzen seines beruflichen Gebiets hinaus engagiert, zeigt sich Chargaff als bekanntermaßen belesener, v.a. auch politisch engagierter Zeitzeuge. Reflexionen über frühe literarische Eindrücke oder auch "über die Schwierigkeit, eine Satire zu schreiben", weisen den Autor nicht zuletzt selbst als geschliffenen Rhetoriker aus. Wenn er etwa mit dem Blick auf seine amerikanische Wahlheimat "die Lüge als das einzig Wahrhaftige" und die "Meinungsindustrie" als die stinkendste Dienerin des Fortschritts" bezeichnet, so sollte man nicht übersehen, dass die - gewiss nicht eben ausgewogenen Urteile - in wohlbegründetem Zusammenhang stehen. Dass Chargaff jedoch nicht nur zornig, sondern auch konstruktiv sein kann, zeigt sein Vorschlag zur "einseitigen Abrüstung der übertriebenen Forschungsförderung" , solange das sehnlich erwartete "Entfindungsgenie" nicht in Sicht ist. 

Chargaff, Erwin: Zeugenschaft. Essays über Sprache und Wissenschaft. Frankfurt/M.: Luchterhand, 1990. 238 S. (Sammlung Luchterhand; 904) DM 16,80/ sFr 14,40/ öS 131