Kritik der Lebensformen

Online Special

Schwere Kost für viele Liberale ist Rahel Jaeggis „Kritik der Lebensformen“. Ein Kern des Selbstverständnisses für Liberale ist die Überzeugung, dass meine Art zu leben, mir überlassen bleiben müsse. Über Lebensformen lasse sich nicht streiten. Diese Überzeugung ist nicht nur einem Instinkt der Verteidigung der Privatsphäre geschuldet. Er ist auch theoretisch gut fundiert. In modernen, pluralen Gesellschaften sei es nicht vielversprechend, ethisch einheitliche Lebensformen anzustreben. Deswegen müssten die Mitglieder der Gesellschaft lernen, ihnen nicht entsprechende Daseinsformen zu tolerieren und  sich darauf konzentrieren, den Umgang von Menschen und Gruppen mit verschiedenen existenziellen Vorstellungen bestmöglich zu gestalten. Dafür stehen Theoretiker wie Jürgen Habermas, John Rawls und Judith Shklar.

Rahel Jaeggi wird nun für Menschen, die sich dieser Ansicht anschließen, unbequem. Ihr Argument beginnt damit, dass sie festhält, dass die privaten Lebensformen sehr wichtige Auswirkungen auf das öffentliche Leben haben (S. 38). Wie man privat leben will, schlägt durch auf täglich relevante Dinge wie die Gestaltung der Städte oder die Organisation der Kinderbetreuung und ist in Umbruchsituationen (z. B. im Umgang mit anderen Kulturen) wirkmächtig.

Lebensformen seien geprägt durch „die innere Gestalt jener Institutionen und überindividuellen Zusammenhänge“, innerhalb derer sich die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten erst ergeben. Eine Kritik der Lebensformen wird damit zur Voraussetzung der selbstbewussten Aneignung der Lebensbedingungen. Überspitzt: Jaeggi sieht im Einmischen in das Privatleben einen Beitrag, der ein selbstbewussteres und selbstbestimmteres Leben zu führen ermöglicht.

Natürlich lehnt sie „Sittendiktatur“ und Paternalismus ab. Sie verwirft das Bild einer „besten Lebensform“ oder einer sich im Privatleben ausdrückenden „unhintergehbaren Identität“. Sie konzentriert sich auf die Kritik, auf die Diskussion der Aspekte des „Nichtgelingens“ von Lebensformen. Nichtgelingen ist dabei der Prozess, wenn in einer Lebensform das, was man will, nicht übereinstimmt mit dem, was man schon tut oder kann. „Misslingende Lebensformen leiden an einem kollektiven praktischen Reflexionsdefizit, an einer Lernblockade.“ (S.  447)

Die Frage einer Liberalen wie Judith Shklar wäre natürlich, wer diese Kritik übt, mit welchen Machtmitteln und mit welchen Zielen. Sie würde argumentieren, dass historisch diese Kritik zumeist gegen die Schwächeren der Gesellschaft gerichtet worden wäre. Jaeggi will auch keine extern-autoritäre Perspektive, sondern einen Prozess von Kritik und Selbstkritik. Am Ende steht für Jaeggi nicht die eine richtige Lebensform. Sie will Lebensformen stets als Experimente auffassen, ihre Welt soll einen experimentellen Pluralismus ermöglichen. (S. 451)

Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2014. 451 S., € 20,- [D], 20,60 [A], sFr 28,- ; ISBN 978 -3-518-29587-8