Welchen Fortschritt wollen wir?

Ausgabe: 2012 | 3

„Welchen Fortschritt wollen wir?“ – so der Titel eines vom thüringischen Wirtschaftsminister Matthias Machnig herausgegebenen Bandes mit Beiträgen von Autoren, die der deutschen Sozialdemokratie nahestehen. Einig sind sich die Autoren, dass die zunehmende soziale Schieflage auch in Deutschland nur durch eine fairere Verteilung des Erwirtschafteten und eine stärkere Heranziehung der Vermögenden zur Finanzierung der öffentlichen Leistungen erreicht werden könne. Übereinstimmung oder zumindest allgemeine Zustimmung finden auch die Beiträge zur notwendigen Energie- und Klimawende, die auch als grüne Wachstumschance wahrgenommen wird. Volker Hauff präsentiert etwa die Ergebnisse einer von Angela Merkel einberufenen Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“, die neben mehr Energieeffizienz und dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energieträger auch die Schaffung der erforderlichen neuen Infrastrukturen, etwa intelligenter Netze, sowie die technologieneutrale Ausschreibung der benötigten Kraftwerksleistungen vorsehen, um mehr Kostenneutralität in die Energiebranche zu bringen. Ernst U. Weizsäcker plädiert einmal mehr für die Einführung einer sukzessive steigenden Steuer auf den Energieverbrauch, was optimale Anreize zur Technologieeffizienz geben würde – als Vorbild dient ihm dabei Japan, das der Energiekrise der 1970er-Jahre mit Technologiesprüngen „geantwortet“ habe. Der Konsens in den Beiträgen geht jedoch dort zu Ende, wo es um die Wachstumsfrage geht – der Untertitel des Bandes lautet ja „Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand“. Lediglich einige der Autoren verweisen auf die Grenzen des Wachstumskonzepts, dem auch der Begriff des „Neuen Fortschritts“ des SPD-Parteiprogramms verhaftet bleibt.

 

Claus Offe verweist etwa darauf, dass wir nicht „mehr Fortschritt“ bräuchten, sondern „eine gesteigerte Fähigkeit, mit den Folgen der (angeblichen) Fortschritte fertig zu werden“ (S. 42). So gehe es heute um das Verhindern von Rückschlägen, das Setzen von „Stoppschildern“ etwa hinsichtlich des Abbaus sozialer und demokratischer Rechte. Offe warnt auch vor den Gefahren einer „Politik der Angst“, die sogenannte Rettungsmaßnahmen dann als alternativlos darstelle. Denn in Wahrheit bräuchten wir Rettung „vor dem gedankenlosen Aktivismus ´alternativloser´ Rettungsexperten“ (S. 38). Jedenfalls sei das Letzte, was wir brauchen, mehr Fortschritt gemessen als „Wirtschaftswachstum, Produktivismus, Vollbeschäftigung, Konsumismus, die Maximierung von Optionen auf Märkten wie der individuellen Lebensführung“ (S. 43). Offe schlägt schließlich vor, dem „Brutto-Fortschritt“ einen „Netto-Fortschritt“ als „qualitatives Maß für Befreiung und Wohlfahrtssteigerung“ (S. 46) gegenüberzustellen.

 

Mehrere Beiträge zielen auf die „Wiederaneignung des Sozialen“ (Stefan Lessenich) oder die Entdeckung eines „neuen Gemeinsamen“, welches Attraktivität bei der Mehrheitsbevölkerung erreichen müsse. Benjamin Mikfeld nennt für eine neue „Fortschrittserzählung“ als Bedingungen ein „Partizipationsversprechen“, ein „Prosperitätsversprechen“ sowie ein „Gerechtigkeits- und Sicherheits- versprechen“ (S. 208). Konkret fordert er neue Indikatoren zur Messung gesellschaftlichen Wohlstands, die Einführung von Public-Equity-Fonds für gemeinwirtschaftliche Projekte, gespeist aus Steuern auf Finanzspekulation (die er als „ökonomische Umweltverschmutzung“ bezeichnet) sowie die Implementierung neuer Fortschrittsindikatoren auch auf Unternehmensebene, was der „Corporate Citizenship“ mehr Verbindlichkeit gäbe (S. 218f.).

 

Der Sozialexperte und Armutsforscher Christoph Butterwege plädiert nicht nur für gesetzlich garantierte Mindestlöhne, sondern auch für eine einheitliche „solidarische Bürgerversicherung“, die auch Selbstständige, Beamte und Politiker einschlösse und allen zugänglich sein müsse, „unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht“ (S. 81). Klaus Dörre fordert schließlich eine Aufwertung der „Humandienstleistungen“ wie Sorge- und Pflegearbeiten verbunden mit emanzipatorischer Wachstumskritik, weiters eine „öffentliche Kontrolle des Banken- und Finanz- sowie des Energiesektors“ (S. 230) sowie die Durchsetzung neuer Eigentumsformen („Umwandlung großer Unternehmen in Stiftungen“, ebd.) - Vorschläge, die einem neuen SPD-Parteiprogramm wohl gut anstünden. H. H.

 

Welchen Fortschritt wollen wir? Hrsg. v. Wolfgang Machnig. Frankfurt: Campus, 2012. 252 S., € 22,90 [D], 23,60 [A], sFr 30,60

 

ISBN 978-3-593-39604-0