Weitergeben! Anstiftung zum regenerativen Leben

Ausgabe: 2008 | 2

Um 2050 werden in den Wohlstandsländern Europas – vor allem in Deutschland und Österreich – mehr die Hälfte der BürgerInnen älter als 60 Jahre alt sein. Den Weg in die Seniorengesellschaft ist vorgeschrieben, und eine durchschnittliche Lebenserwartung von dann 80 bis 85 Jahren könnte – so sollte man meinen – als historisch einzigartiger Zuwachs an Lebensqualität begrüßt werden. Doch dem ist keineswegs so: Auch wenn Trendforschung und Werbung „die Alten“ entdecken und das Wort von der „Silbernen“ oder „Goldenen Generation“ die Runde macht, geht - statistisch belegt – die Angst vor dem älter werden um.

 

Heiko Ernst, Chefredakteur der renommierten Zeitschrift Psychologie, legt in diesem sachlich fundierten und doch allgemein verständlich formulierten Buch eine Empfehlung (und doch alles andere als eine Gebrauchsanweisung) für das Gelingen des „dritten Lebens“, die Zeit nach Kindheit, Jugend und Erwerbstätigkeit, vor. Denn anders als die übliche Ratgeberliteratur, die in zahllosen Facetten Wellness für Körper und Geist propagiert, fragt der Autor grundsätzlich nach dem Sinn eines verlängerten Lebens und plädiert für die Entwicklung von „Generativität“, die der dänisch-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson als „zeugende und kreative Fürsorge“ definierte.

 

Heiko Ernst begreift Generativität als „das psychologisch-kulturelle Äquivalent zur physischen Nachhaltigkeit“, die „nicht nur auf den Erhalt, sondern auf die Verbesserung der zivilisatorischen Errungenschaften, der Kultur und damit der Lebensbedingungen künftiger Generationen zielt“ (S. 46). Vor allem im Prozess der Bildung zugrunde gelegt, ziele Generativität in ihrem Kern darauf, jenseits der eigenen biologischen Existenz und der Zeugung von Nachkommen auf dieser Welt eine dauerhafte Spur zu hinterlassen. Um am „Nachmittag des Lebens“ nicht in Selbstüberschätzung oder Stagnation zu schlittern, biete die dezidierte Entwicklung von Fürsorge im Sinne von „Welt-Interesse“ und „Welt-Zuwendung“ nicht nur die Möglichkeit, „nachhaltig“ auf Individuen oder Institutionen zu wirken. Generativität trage vielmehr als „zentrale Tugend des Erwachsenenalters ihren Lohn in sich“, bedeutete sie doch einen „Zugewinn an psychischem und sozialem Wohlbefinden und seelische Gesundheit für den ‚Rest des Lebens’" (S. 88). Generativität zu praktizieren, sei jedoch keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Lernprozess, in dem es darum geht, von sich selbst absehen zu können, um zugleich in der Rolle des Lehrers, Mentors, als „keeper of the meaning“ glaubwürdig zu sein.

 

Dem Autor geht es, wie gesagt, nicht um eine „Bedienungsanleitung“ für eine neue Welt jenseits der Spaßkultur, doch lässt er uns, gewissermaßen sich selbst vergewissernd, an einem Erkundungsprozess teilnehmen, etwa wenn er über „Metafähigkeiten“ als „Maximen gelingender Selbststeuerung“ nachdenkt: Zu ihnen zählt er existenzielle Geduld, um die eigene Identität an neue Gegebenheiten anzupassen; Autonomie als Ausdruck der Gelassenheit und inneren Reife; Verantwortung für das eigene Tun sowie die Fähigkeit, Unsicherheit (auch) als Tugend zu erkennen.

 

Im „dritten Alter" steht, so Heiko Ernst, der grundlegende Umbau der Psyche an, geht es doch um die die Neudefinition der Identität, von Leistung, Intimität und Kreativität und nicht zuletzt die intensive(re) Suche nach dem Sinn des Lebens. All das „mündet schließlich in der generativen Frage: Was ist unser Beitrag, unser Vermächtnis? Was haben wir getan, was können wir noch tun, um aus dieser Welt einen besseren Ort zu machen?" (S. 126) Eine in allen Kulturen geübte Herausforderung und Praxis, gewiss, und doch alles andere als selbstverständlich: Wenn etwa in Anbetracht gestiegener Lebenserwartung Sechzigjährige plötzlich zu „Eltern ihrer Eltern“ werden und zugleich den stetigen Schwund der eigenen Lebenskräfte erfahren, kann es schwerfallen, für die eigene „symbolische Unsterblichkeit zu sorgen“ (S. 135).

 

Im Kontext der Wiederentdeckung des Religiösen als Teil der „Arbeit an der Unsterblichkeit“ erscheint Generativität als „der existenzielle Schlussstein im Lebensbogen“ (S. 143). Wie schon Plato erkannte, stehen dem Menschen grundsätzlich drei Wege zur Erlangung potenzieller Verewigung offen: künstlerische Ideen und Objekte, handwerkliche oder praktische Erfindungen sowie schließlich Weisheit und Tugend, die sich u. a. in der Verbesserung sozialer Institutionen niederschlagen können (vgl. S. 187).

 

Generativ zu handeln, so Heiko Ernst in einem abschließenden Blick auf das Leben der nach uns Kommenden, „bedeutet per definitionem die Abkehr von einem Lebensstil, der auf Selbstzentrierung und den damit verbundenen Obsessionen wie zwanghaftem Konsum oder Gesundheitsfetischismus gründet“ (S. 201). Generativität bedeute Kreativität bei der Erfindung neuer Lebens-Mittel, etwa durch die Berücksichtigung von Grundrechten kommender Generationen. Mit dem Verweis auf nicht weniger als 196 Bürgerstiftungen, die es 2007 alleine in Deutschland gab macht der Autor auf das positive Potenzial generativen Handelns aufmerksam, benennt aber auch die Perversion dieser Idee, wie sie etwa in Diktaturen praktiziert wurde und wird.

 

„Könnte Weisheit“, so Heiko Ernst abschließend, „eine Schlüsseleigenschaft in dem Sinne sein, dass die Generativität stimuliert und begünstigt, indem sie als eine Geisteshaltung" ‚vorverlegt’ und auch schon im mittleren Alter oder noch früher ‚anwendbar’ wird?“ (S. 241) Weisheit bedeute auch, mit Widersprüchen und Unsicherheiten zu leben, auch und gerade im „dritten Alter“. Im Blick auf die unendlich vielen Facetten erfüllender Generativität – ob im Kleinen oder Großen – ist dies alle Mal besser als vielfach beschworene „Ruhestand“.

 

Ein Buch, das mutmaßlich eine der wichtigsten Zukunftsherausforderungen intelligent und humorvoll ausgelotet und dem daher viele LeserInnen zu wünschen sind. W. Sp.

 

Ernst, Heiko: Weitergeben! Anstiftung zum regenerativen Leben. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008. 256 S. € 19,95 [D], 20,55 [A], sFr 34,90

 

ISBN 978-3-455-50073-8