Warum es ums Ganze geht

Ausgabe: 2009 | 4

Indem Hans-Peter Dürr, 1929 in Stuttgart geboren, auf ein ereignisreiches Leben zurückblickt, ist das, was er dem Leser anvertraut, auch ein Stück weit Biografie. Zugleich ist dieses Buch aber weit mehr: Denn ob es die Erinnerung an die vom Kriegsende geprägte Kindheit, die Begegnung mit Edward Teller (bei dem Dürr dissertierte), die langjährige Zusammenarbeit und Freundschaft mit Werner Heisenberg, die Zusammentreffen mit seiner späteren Frau Susan oder mit herausragenden Persönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft sind: Dürr geht es niemals darum, die Höhepunkte eines erfüllten – und man darf annehmen – auch glücklichen Lebens vor dem sprichwörtlich geneigten Leser selbstzufrieden auszubreiten. Nein, ihm geht es um mehr, in mehrfachem Wortsinn tatsächlich „ums Ganze“. Mit geradezu jugendlichem Elan durchmisst Hans Peter Dürr die Territorien, die er in acht Dekaden durchschritten hat, eine Zeitspanne, in der er das wissenschaftliche Denken des 20. Jahrhunderts entscheidend mit geprägt und neue Perspektiven für das 21. Jahrhundert erschlossen hat. Er weiß (erstmals wohl seit der Begegnung mit E. Teller) darum, „dass die Wissenschaft ihre Unschuld durch die schiere Macht des Möglichen verliert“ (S. 27). Er erzählt von der gesellschaftspolitischen Verantwortung als Wissenschaftler, die ihm vor allem Hannah Arendt vermittelt und die ihn auffordert, „sich einzumischen, ein Grenzgänger zu werden“ (S. 34).

 

Er berichtet von der Alltagsarbeit und den inspirierenden Diskussionen mit Werner Heisenberg, von der Quantenphysik als Grundlage des „neuen Weltbilds“, das nicht die Materie, sondern das Geistige, die Beziehung ins Zentrum rückt. Zugleich wird Zeitgeschichte lebendig, wenn Dürr den von ihm wesentlich auch mitgetragenen Widerstand gegen die sogenannte friedliche Nutzung der Atomenergie in Erinnerung ruft – für ihn stets verbunden mit der Suche nach den Bedingungen für eine „neue Kultur des Friedens“, die „das Paradigma des Lebendigen auf der Ebene der menschlichen Gesellschaft weiterführt“ (S. 66).

 

 

 

Wahrnehmung und Wirklichkeit

 

Hans-Peter Dürr spricht immer wieder von der Differenz von Wahrnehmung und Wirklichkeit, die er mit einem tibetanischen Sprichwort eindrucksvoll verdeutlicht: „Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach, als ein Wald, der wächst!“ Echte Wertschöpfung, so seine Überzeugung, braucht Zeit, und wird dann zu einem Plussummenspiel, wenn wir lernen, das Prinzip der Konkurrenz durch jenes der Kooperation zu ersetzen. Wissenschaft sei in ihrem Streben nach Anwendung vor allem „Machenschaft“ meint Dürr, und fordert „persönliche Bürgschaft für ursächliches Handeln“ ein: Forscher müssten in der Lage sein, die Folgen ihres Tuns voraussehen zu können; dazu aber bedürfe es verbindlicher Maßstäbe.

 

Die Überlegungen zu den Grundlagen des modernen naturwissenschaftlichen Denkens führen den Autor zugleich einen entscheidenden Schritt weiter: Wenn es, „wie uns die moderne Naturwissenschaft gelehrt hat, eine objektivierbare Wirklichkeit nicht gibt“, dann müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, „dass die Wirklichkeit weit mehr ist als dingliche Realität“ (vgl. S. 76). Aus der Sicht des „Neuen Denkens“ ist „Wirklichkeit reine Verbundenheit oder Potenzialität“, ist „die Möglichkeit, sich unter gewissen Umständen als Materie und Energie zu manifestieren, aber nicht die Manifestation selbst“ (S. 103) Diese Einsicht lässt den langjährigen Leiter des Max-Plank-Instituts für Physik (München) von einer „Revolution der Physik“, von einem „Erwartungsfeld“, von einem „andauernden Schöpfungsprozess“ sprechen (vgl. S. 87). Mehr und mehr zeige sich eine „Welt der Beziehungen“, die „die Grenzen unseres Wissens und unserer Sprache deutlich werden lässt, uns aber zugleich einlädt, die Welt neu zu gestalten“ (S. 112). Im „Zusammenwirken von Glauben, Verstehen und Begreifen“ hätten wir die Chance das „konstruktive Zusammenwirken von Verschiedenem zu erfahren“ (S. 117). Nicht durch eine auf „fragmentiertem, reduktionistischem Denken basierende Wissenschaft“ (S. 120), sondern „durch eine offene, aufmerksame, umsichtige, flexible, kreative, einfühlende und liebende Lebenseinstellung“ (S. 123) könnten wir eine dauerhafte Weltordnung schaffen, die den Prinzipien der Evolution Rechnung trägt.

 

 

 

Innovationen der Zivilgesellschaft

 

In der „gegenwärtigen Situation des globalen gesellschaftlichen Umbruchs“ hält Dürr „soziale Innovationen“ für unerlässlich (S. 124), die s. E. weder von Staat noch Wirtschaft, sondern von einer „weiterentwickelten, differenzierten Zivilgesellschaft“ (S. 126) angeregt würden (und auf eine Stärkung globaler Steuerung hinauslaufen). Als „Transmissionsriemen“ weltweiter Vernetzung möchte er dabei auch das von ihm 1987 gegründete „Global Challenges Network“ verstanden wissen.

 

In einer von „kreativer Instabilität“ geprägten Welt  – die Hans-Peter Dürr so eindrucksvoll anhand der chaotischen Bewegungen eines dreiarmigen Pendels zu verdeutlichen weiß – gelte es, „neue Lebensstile“ der Entschleunigung und des moderaten Verhaltens zu entwickeln (S. 152ff.) und diese als „Heilungsprozesse“ zu begreifen, die wir als „Mitschöpfer der zukünftigen Entwicklung“ mit verantworten. Diese wird – so ist der Träger des Alternativen Nobelpreises überzeugt - geprägt sein von einer „offeneren, vieldeutigen Wahrheit“, die Glauben und Wissen mit einander vereint und uns durch Kooperation und Kreativität ermöglicht, „eine bessere Welt zu verwirklichen“ (S. 176).

 

Wer Hans-Peter Dürr kennen gelernt hat und Zeuge eines seiner von Wissen, Weisheit und Leidenschaft geprägten Vorträge geworden ist, wird diesen Titel ebenso gerne zur Hand nehmen wie jemand, der das Wirken und Denken dieses wissenschaftlichen Grenzgängers und Pioniers des „neuen Denkens“ entdecken und erkunden möchte. Für mich ein Meilenstein der autobiografischen Wissenschaftsliteratur. W. Sp.

 

Dürr, Hans-Peter: Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch. München: ökom-Verl., 2009. 189 S., € 19,80 [D], 20,40 [A],

 

sFr 34,65; ISBN 978-3-86581-173-8