Editorial 2011/3
Achtzig Prozent der Österreicherinnen und Österreicher – so der Befund einer jüngst publizierten Grazer Studie – sind der Auffassung, dass es um die soziale Gerechtigkeit in ihrem Land nicht gut bestellt sei. Die wachsende Diskrepanz der Einkommen, zunehmender ökonomischer Druck, der begründete Verdacht, dass (nationalstaatliche) Politik nicht in der Lage ist, die Willkür radikalisierter und unsozialer Markte zu zähmen, nicht zuletzt aber wohl auch der vielfach empfundene Neid, nicht selbst zu den Vermögenden und Mächtigen zu zählen, all das nährt und verstärkt das kollektive und persönliche Unbehagen trotz eines historisch bislang unerreichten Niveaus an ökonomischer Wertschöpfung und umfassender sozialer Sicherungssysteme. Dass dieser Befund nicht nur für Österreich zutrifft, sondern – grosso modo – die Gemütslage von „Wohlstandsgesellschaften“ einigermaßen treffsicher beschreibt, dürfte weitgehend außer Streit stehen.
Dass indes – wie Sigmund Freud behauptete – dem Menschen eine „Lust an der Aggression und Destruktion eigne“ und Krieg als Ausdruck dieses Destruktionstriebes „naturgemäß, biologisch wohl begründet [und] praktisch kaum vermeidbar“ (S. 16) sei, dies widerlegt Joachim Bauer in seinem neuesten Buch durch einen faszinierenden Blick auf jüngste neurobiologische und anthropologische Erkenntnisse, die auch die Rolle von Moralsystemen neu bewerten.
Mit dem Hinweis darauf, dass Charles Darwin nicht die Aggression, sondern soziale Instinkte, „das Bedürfnis des Menschen nach Bindung, Zugehörigkeit und Gemeinschaft“ ins Zentrum seiner Evolutionstheorie rückte, während „das Konzept des Aggressionstriebs vor allem in Großbritannien und den USA „so widerstandsfähig zu sein scheint, weil es als biologische Legitimation eines auf purem Egoismus gegründeten Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystems“ dient, legt Bauer dar, „dass unsere Spezies von einer natürlichen, neurobiologisch verankerten Abneigung gegen zu große Ungleichheit geleitet wird. […] Zu kooperieren, anderen zu helfen und Gerechtigkeit walten zu lassen ist eine global anzutreffende, biologisch verankerte menschliche Grundmotivation“, so der Autor pointiert (S. 38f.). Damit postuliert der Neurobiologie, Arzt und Psychotherapeut freilich kein „Zeitalter des allgemeinen Gutmenschentums“, sondern macht deutlich, dass die Verweigerung von sozialer Akzeptanz und Gerechtigkeit den Betroffenen Schmerzen bereitet und Aggression auslöst. Genau betrachtet zeigt sich, dass der „Aggressionsapparat“ dazu dient, Bindung und die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft zu sichern. Die Erfahrung von Armut in vergleichsweise reichen Gesellschaften trägt hingegen zur Entwicklung von Gewalt bei. Vernachlässigte oder an Gewalt gewöhnte Kinder etwa „erleben die Welt als gefährlichen Ort“ (S. 83) und reagieren auf die Schmerzerfahrung durch Depression, vermindertes Selbstwertgefühl und antisoziales Verhalten.
Sozial Schwache mit moralischer Legitimation von Anerkennung und Teilhabe gleichsam „abzufüttern“ sei keine tragfähige Perspektive. Vielmehr gelte es „in einem demokratischen Land die Voraussetzungen für Partizipation zu schaffen, um berechtigte Ansprüche zu realisieren“. Dies aber könnten „die Betroffenen – wir alle – nur, wenn wir aktiv werden“, betont der Autor (S. 123).
Die ausführlich und auch für Laien gut nachvollziehbare Darstellung der evolutionären Genese menschlicher Aggression, die Bauer aus der Erfahrung von Ressourcenmangel und der daraus erwachsenden „neolithischen Revolution“ vor ca. 10.000 Jahren ableitet, kann hier ebenso nur erwähnt werden wie die Rolle, die er Moralsystemen als Mittel zur „Garantie von Zusammenhalt, Kooperation und gegenseitiger Hilfestellung“(S. 186) zuschreibt. Dass Joachim Bauer Bildung als „den wichtigsten Ausweg aus innergesellschaftlicher Benachteiligung“ und als „Instrument der Gewaltprävention“(S. 198) ansieht, ist ebenso schlüssig wie die Warnung vor einer „neolithischen Revolution im globalen Maßstab“, der wir entgegensteuern, wenn es nicht gelingt, der „Herrschaft des ökonomischen Prinzips“ durch die Wiederentdeckung des „Prinzips Menschlichkeit“ zu begegnen (vgl. S. 200).
Die Dauerkrise der Ökonomie und mögliche Alternativen thematisiert in den ersten beiden Kapiteln dieser Ausgabe Hans Holzinger. Von der Macht des Geldes (und verschiedenen Stilen des Umgangs mit ihm) ist dabei ebenso die Rede wie vom Verlust der Gefühle oder Möglichkeiten einer Wirtschaft ohne Wachstum. Alfred Auer hat sich angesehen, welche Perspektiven sich im Kontext der automobilen Zukunft abzeichnen. Vorschläge „Demokratie zu lernen und zu leben“ und ein von Stefan Wally und Stefan Köstlinger gestaltetes Kapitel mit Beiträgen zum Thema „Islam“ aus der Außen- und Innenperspektive schließen daran an. Im doppelten Wortsinn Fundamentales – unseren Umgang mit Dreck sowie ein überraschend vielfältiges Spektrum von Assoziationen zum Begriff der Bodenlosigkeit – Marianne Gronemeyer zu ihrem 70. Geburtstag zugedacht – runden diese Ausgabe ab.