Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität

Ausgabe: 2008 | 1

Traditionelle Wirtschaftspolitik setzt angesichts (vermeintlich) zu geringer Wachstumsraten (ob in der EU oder den USA) auf Steigerung. Die Erhöhung von Angebot und Kaufkraft gilt allgemein als der Königsweg zu Wachstum und Wohlstand, und ist doch – so die zentrale These von Norbert Reuter –nicht zielführend. Kein Wunder also, dass (nicht nur die wirtschaftspolitischen) Programme der Parteien einander immer mehr gleichen: Flexibilisierung, Deregulierung und Staatsabbau, so heißt es fast unisono, sind unverzichtbar, wachstumskritische Diskussionen (im Kreis des Establishments) so gut wie nicht mehr zu finden sind. Mit diesem Essay, der vor allem die ökonomische Entwicklung Deutschlands vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart in den Blick nimmt und dessen Argumente durch eine Fülle anschaulicher Grafiken Daten abgesichert scheinen, will Reuter zu einem neuen Problembewusstsein beitragen, ja, einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel anregen. Wo es selbst eine „stän-

 

dig expandierende Marketingindustrie nicht mehr schafft, die Kluft zwischen wachsender Produktionsfähigkeit und sinkender Konsumbereitschaft zu schließen, muss die Frage nach dem grundsätzlichen Sinn weiteren Wachstums in hoch industrialisierten Ländern mit steigendem materiellen Überfluss gestellt werden.“ (S. 12)

 

Zunächst skizziert Reuter zentrale, kaum widerlegbare Fakten auf, die (s. E.) die Misere der „neo“-liberalen Kurses aufzeigen:

 

Die Analyse der historisch einmaligen Situation der Nachkriegszeit erklärt die hohen Wachstumsraten der 50er Jahre (durchschnittlich 8 Prozent) und die Zeit der „Vollbeschäftigung“ 1960 – 1967). Die nachfolgende Phase kontinuierlicher Abschwächung aber macht die Erwartung vergleichbarer Steigerungsraten zur Illusion. Selbst in der Zeit des Wiederaufbaus gab es kein exponentielles, sondern nur lineares Wachstum. Bei einer „Beschäftigungsschwelle“ von zwei Prozent Wachstum ist  nicht mit Impulsen auf dem Arbeitsmarkt zu rechnen. Wirtschaftliches Wachstum in hoch entwickelten Ländern schmälert die Chancen nachholender Entwicklung in den Schwellenländern.

 

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Die seit einigen Dekaden beobachtbare Entkopplung von Wachstum und Lebensqualität einerseits, von Produktivität und Arbeitsvolumen anderseits macht deutlich, dass ein „Weiter-wie-Bisher“ nicht zur Lösung, sondern vielmehr zum Anwachsen der Probleme führt. Deregulierung, Flexibilisierung, und nicht zuletzt „innovative“ Möglichkeiten der Reduzierung von Steuern erhöhen „bestenfalls“ die Gewinne (von Wenigen) auf Kosten einer insgesamt negativen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - trotz (oder auch wegen) eines historisch einzigartigen Anstiegs der Produktivität. „Waren 1960 noch 56,1 Mrd. Arbeitsstuden erforderlich, um in Deutschland ein BIP von knapp 570 Mrd. Euro zu erwirtschaften, so wurde 2005 in den alten Bundesländern mit nur knapp 45 Mrd. Arbeitsstunden ein BIP von 1,77 Billionen Euro erwirtschaftet. Mit nur noch 80 Prozent der Arbeitsstunden wurde also ein mehr als dreimal so hoher realer Produktionswert geschaffen.“ (S. 40) Und schließlich: Der insgesamt hohe Standard der Versorgung mit materiellen Gütern steigert die „Flop-Rate“ für neue Produkte, erhöht also das unternehmerische Risiko (auf Kosten der ökologischen Belastung) und stellt eine weitere Hürde für wirtschaftliches Wachstum dar. (S. 45ff.)

 

Auch die Behauptung, dass eine Erhöhung „allen zu Gute komme“, widerlegt Reuter mit Blick auf die Statistik: Wie der „1.Armuts- und Reichtumsbericht“ nachweist, ist die Armutsrisikoquote in Deutschland seit 1983 kontinuierlich gestiegen und liegt 2003 bei 13,5 Prozent. (In Österreich gelten laut Armutskonferenz 420.000 Menschen als arm, rd. 1 Million sind armutsgefährdet.) Hingegen teilen die 10 Prozent der reichsten Haushalte Deutschlands 47 Prozent des gesamten Nettovermögens. Zwischen 1991 und 2005 stiegen die Brutto-Unternehmensgewinne um nicht weniger als 114 Prozent, die Bruttolohn- und Gehaltssumme im Durchschnitt hingegen um nur 31 Prozent. (S. 59) Wenig überraschend, dass Reuter auch die wirtschaftliche Globalisierung in ihrer derzeitigen Form mehr als nur kritisch kommentiert. Mit Hans-Peter Dürr stellt er fest, dass es sich dabei „um einen Wettlauf handelt“ bei dem wir um die Wette an dem Ast sägen, auf dem wir selber sitzen und dabei eigentlich nur auf den Nachbarn gucken, ob er ein bisschen schneller sägt als man selber“ (S. 65).

 

In seiner Analyse und den daraus abgeleiteten Forderungen beruft sich Reuter maßgeblich auf John Maynard Keynes u. Wassili W. Leontieff, deren An- und Einsichten zur Verteilung von Arbeit und Einkommen in fünf  Beiträgen im Anhang dieses Bandes nachzulesen sind.

 

Zusammengefasst: Ein faktenreiches, fundiertes und engagiertes Plädoyer für eine Neuausrichtung der (Wirtschafts-) Politik, die an Stelle der Illusion permanenten Wachstums vor allem auf Verteilungsgerechtigkeit setzt. W. Sp.

 

Reuter, Norbert: Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität. Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern u. Morgen. Marburg: Metropolis-Verl., 2007 (2. Aufl.). 179 S., € 18,00 [D], 18,54 [A], sFr 31,50

 

ISBN 978-3-89518-595-3