Von Menschen und anderen Tieren

Ausgabe: 2010 | 1

Anders als Jeremy Rifkin, der in unserer Fähigkeit zu kooperativem Verhalten die Voraussetzungen zur Entwicklung einer neuen Stufe des kollektiven Bewusstseins ausmacht, stellt sein britischer Kollege John Gray die Zukunftsfähigkeit des Menschen radikal infrage.

 

Mit diesem in englischer Originalausgabe bereits 2002 erschienenen Band – nach welchen Kriterien wird eigentlich über den richtigen Zeitpunkt von Übersetzungen entschieden? – stellt der an der „London School of Economics“ lehrende Autor nicht weniger als das Fundament des abendländischen Denkens in Frage. Mehr noch, er setzt es mit aller ihm zu Gebote stehenden Entschlossenheit außer Kraft. Denn die „Grundüberzeugung des Humanismus“, dass sich die Geschichte der Menschheit in ethischer und technologischer Hinsicht trotz mancher Rückschläge als Fortschritt darstellen werde, ist für Gray nicht mehr als ein „Aberglaube, der von der Wahrheit weiter entfernt ist als jede Religion“ (S. 11).

 

Konsequenterweise ist der Autor darauf aus, „das herrschende humanistische Weltbild durch den strategischen Einsatz darwinistischer Vorstellungen aufzubrechen“ (S. 12). Davon ausgehend, dass unser Dasein auf bedingungslosen Kampf und Ausbeutung zurückzuführen ist – eben dies ist, wie mir scheint, zunehmend Glaubenssache – entledigt sich Gray seiner Aufgabe mit intellektueller und stilistischer Bravour.

 

Sein Thema ist niemand oder nichts geringerer als der Homo rapiens, das Raubtier, die „Menschenplage“, die „keinen Artenschutz verdient“. Denn wenn einst „die letzten Spuren des Tieres Mensch verwischt sind, werden viele Spezies, die er heute auszulöschen droht, noch immer da sein, neben vielen anderen, die sich erst noch entwickeln werden. Die Erde wird die Menschheit vergessen. Das Spiel des Lebens wird weitergehen.“ (S.165)

 

Detailliert, fast genüsslich breitet der Experte für Ideengeschichte das Spektrum der Katastrophen, die unsere Auslöschung vorantreiben und zu einem „guten“ Ende bringen, aus: Klimakatastrophen, Ressourcenkriege, pandemische Krankheiten, deren Verursacher selbst von den Mächtigsten der Welt nicht in Schach zu halten sind, haben darin ebenso Platz wie eine „unzähmbare Technik“, die Gray als Ausgeburt einer „irrationalen Wissenschaft“ betrachtet. Um nichts besser kommt allerdings auch die Philosophie weg, die schon lange den Anspruch aufgegeben habe, „uns zu lehren, wie man leben soll“ und sich damit abmüht, das Denken zu klären (vgl. S. 98).

 

In Anbetracht von rund 20 Genoziden, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu registrieren waren, des Scheiterns von Gerechtigkeitszielen und anderer Desaster mehr wären wir – so des Autors Überzeugung – gut beraten, die Idee der Auszeichnung durch ein nur dem Menschen zukommendes Bewusstsein aufzugeben und uns zugleich von der Idee der „Erlösung vom Leiden“ zu verabschieden. Würden wir hingegen (von den Tieren) lernen, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren, so müssten wir zwar die (alles andere als gesicherte) Vorstellung der Vergebung und eines ewigen Paradieses aufgeben, hätten jedoch auf Erden viel gewonnen.

 

Mit der Demontage des Humanismus als Prinzip kontinuierlicher „Fortschrittserweiterung“ verweist Gray auch auf die perfide Logik des Kapitalismus, unter dessen Regime „immer mehr Menschen ökonomisch gesehen überflüssig werden“ (S. 171) und „die Mittelschicht zu einem Luxus wird, den sich der Kapitalismus nicht mehr leisten kann“ (S. 172).

 

Sollten wir in Anbetracht des absehbaren finalen Abgesangs des „Raubtiers Mensch“ zumindest versuchsweise andere Formen der Existenz in Erwägung ziehen, dann müssten wir lernen, dem „Trost des Tätigseins“ zu entsagen. Es gelte, den Tod zu akzeptieren und unser „Schicksal spielerisch zu nehmen.“ „Zu sehen was ist“, würde heißen, „die Sterblichkeit zu akzeptieren, anstatt von der Unsterblichkeit zu träumen“ (vgl. S. 209). Anders formuliert: „Echte Spiritualität bedeutet nicht, nach Sinn zu suchen, sondern sich von ihm zu lösen.“ (S. 207)

 

Indem John Gray die Grundlagen unseres Denkens und seine bis dato überwiegend zerstörerischen Folgen konsequent durchmisst, öffnet er –  für mich unerwartet und höchst bedenkenswert – die Grundzüge einer kontemplativen Weltsicht jenseits religiöser Heilserwartung. Darüber lohnt es, weiter nachzudenken und vor allem auch ins Gespräch zu kommen. W. Sp.

 

Gray, John: Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus. Stuttgart: Klett- Cotta, 2010. 246 S., € 19,90 [D], 20,50 [A], sFr 31,90

 

ISBN 978-3-608-94610-9