Walter Spielmann: Vom langen, lohnenden Weg über die Himmelsleiter

Ausgabe: 1996 | 2

Dorothee Sölle mit „Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung 1996" ausgezeichnet

„Es muss doch mehr als alles geben!" In diesem knappen Satz vermag sie zusammenzufassen und weiterzutragen, worum sie zeitlebens gerungen, gestritten, geworben - und immer wieder auch gebetet hat. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich Dorothee Sölle diese - inzwischen vielfach auch gelesenen - Worte vor etwa einem Jahr im Rahmen eines morgendlichen Radiokollegs erstmals auch sprechen hören, einer Sendung, in der es um die Klarheit der Sprache als Instrument streitbarer Auseinandersetzung und des Ausdrucks auch dafür ging, "andere Wünsche zu haben als die, die scientia uns erfüllen kann".(1) Es war eine mir spontan vertraute Stimme, ein anderer, neuer Tonfall zwar, aber doch eine Botschaft, die aufzugreifen und weiterzutragen Robert Jungk uns zum Vermächtnis gemacht hat. Und so bin ich sicher: Dorothee Sölle mit jenem Preis zu ehren, den das Land Salzburg (auf Vorschlag des Kuratoriums der Robert-Jungk-Stiftung) alle drei Jahre an eine Persönlichkeit vergibt, "die sich durch Forschungen und Aktivitäten im Hinblick auf Zukunftsentwicklungen besonders verdient gemacht hat", (2) ihr Dank zu sagen und sie zugleich auch zu ermutigen, ist gewiss im Sinne unseres Mentors. Der Dank gilt zum einen dem konstruktiven Zweifel, den Dorothee Sölle wie einen Stachel in das dumpfe Gewissen der Mächtigen und der Trägen - unser aller Gewissen also - zu treiben vermag. Denn ihre Standhaftigkeit, ihr Widerspruch gegen den Status quo zeigt Wirkung. Sie ist eine unüberhörbare Stimme im Ensemble derjenigen, die sich der Tyrannei ökonomischer Zwecksetzung nicht beugen wollen; sie ist jenen eine Stütze, die sich nicht betäuben lassen wollen von den schalen Verlockungen des Konsumismus; sie ist jenen eine Verbündete, die nicht hinnehmen, dass im Namen des Fortschritts in aller Welt "die vier A's, Arbeitslose, Alte, Abhängige und Ausländer" - vor allem auch die Frauen missachtet werden, Wasser, Luft und Böden vergiftet, das Ende der Schöpfung betrieben wird. Zum anderen - und mehr noch - gilt der Dank aber der unerschöpflichen Kraft, mit der Dorothee Sölle uns sagt und erkennen lässt: Es ist ein Mittel gewachsen wider die Macht der Zerstörung. Denn gegen die "apokalyptische Dreifaltigkeit von Ökonomie, Wissenschaft und Technik" (M. Gronemeyer) setzt sie auf die Trias von Friede, Gerechtigkeit und Solidarität, auf Weisheit, Einsicht und Verstand - "sapientia". Es lebt in ihr die Vision einer lebendigen (Kirchen)Gemeinschaft, in der Aktion und Kontemplation gleichermaßen als Gegenwart Gottes wirken, in der eine Politik jenseits des Marktes und eine "Kultur der Gefühle" bestimmende Elemente sind. Diese konkrete Utopie vom besseren Leben ist. wie Dorothee Sölle uns zeigt, zu erschließen nicht nur in erfahrungsbezogener Bibelauslegung; sie ist vielmehr Teil des Alltags selbst, erlebbar unter anderem in der Empfindung von Schönheit und Glück. "Die Schönheit", so sagt sie am Evangelischen Kirchentag in Hamburg (1995), "ist kein Luxus, der uns von der Verzweiflung ablenken soll (...), sie ist die Erfindung Gottes, uns zu sich zu locken. (...) Die Inseln der Schönheit, die wir brauchen, sind die Erinnerung an das wirkliche Leben mitten im falschen." "Glück" hingegen "ist die Gewissheit, gebraucht zu werden, ein Bedürfnis für andere zu sein, nicht nur Bedürfnisse zu haben." - Die Rede ist von einem Mehrwert der anderen, der menschlichen Art, von dem es zu viel nicht geben kann! Sein Werk ist es, "den Himmel zu Erden". Kann dies tatsächlich gelingen? Gewiss, der Weg über die Himmelsleiter ist lang und mühsam, aber er lohnt, (3) denn es sind Anzeichen auszumachen und Beispiele zu nennen, die zeigen, dass wir dabei sind, den "aufrechten Gang" zu üben, anstatt uns in die anempfohlene Einsicht "wunschlosen Unglücks" zu ergeben. Wo, wie Ulrich Beck es formuliert, "die Suppe der Arbeitsgesellschaft immer dünner wird", (4) da kann auch die Saat friedlichen Reichtums" Früchte tragen. Der Widerstand gegen den Wucher eines von den Fesseln sozialer Verantwortung befreiten "Nur-noch-Gewinn-Kapitalismus u (U. Beck) ist nicht allein Ausdruck der Krise, sondern auch der Chance auf ein Zusammenleben in Solidarität, bürgerschaftlicher Mitsprache und Verantwortung für die Schöpfung. Wachsen kann diese Vision aber nur, wenn der ernstgemeinte, offene Dialog zwischen "scientia" und "sapientia" sich weiterentwickelt, Stimmen wie jene Dorothee Sölles verschlagene Ohren öffnen und das Eis der Seele schmelzen. Zu wissen, dass sie nicht alleinsteht, kann sie und uns alle darin bestärken, dass es von "vielem tatsächlich weit mehr als alles", und damit niemals genug gibt. Walter Spielmann

 

(1) Dorothee Sölle; Luise Schottroff: Den Himmel erden. Eine ökofeministische Annäherung an die Bibel. München: Dt. Taschenbuch Verlag, 1996. S. 164. Nicht eigens ausgewiesene Zitate sind diesem Band entnommen.

(2) Erster Träger der mit öS 100.000,- dotierten Auszeichnung war Robert Jungk selbst.

(3) Möglichkeiten, ihn erfolgreich zu bestehen, diskutieren mit besonderer Berücksichtigung der „Kassandra" von Christa Wolf) Dorothee Sölle; Josef Mautner: Himmelsleitern. Ein Gespräch über Literatur und Religion; mit Bildern v. Herbert Falken. Salzburg (u. a.): Verlag A. Pustet. 1996. (edition solidarisch leben)

(3) Ulrich Beck: Kapitalismus ohne Arbeit. In: Der Spiegel 20/1996 S. 140ff.

 

(Dieser Text wurde als Editorial für die ProZukunft-Ausgabe 2/1996 verwendet)