Tugenden, Modernisierung und Folgelasten

Ausgabe: 1999 | 1

In seinem Aufsatz „Bildung und Tradition: zur Kritik der neokonservativen Funktionalisierung des Bildungsbegriffs“ (1990) zählt Joachim Twisselmann Hermann Lübbe wie Odo Marquard zu den einflußreichsten Vordenkern und Exponenten eines neokonservativ funktionalisierten Bildungs- und Traditionsverständnisses. 1991 folgt ihm Georg Lohmann in seinem Portrait bundesdeutscher neokonservativer Intelligenz mit dem Titel „Neokonservative Antworten auf moderne Sinnverlusterfahrungen: über Odo Marquard, Hermann Lübbe und Robert Spaemann“. Hermann Lübbe selbst, er ist Professor emeritus für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich, diskutierte zusammen mit Robert Spaemann und Nikolaus Lobkowicz vom 9.-10. Jänner 1978 in Bonn-Bad Godesberg unter dem Motto „Mut zur Erziehung“ u. a. über einen „Tugendkanon“, der sich etwa gegen den Irrtum wenden sollte, daß die Tugenden des Fleißes, der Disziplin und der Ordnung obsolet geworden wären oder gegen den Irrtum, die Mündigkeit läge im Ideal einer Zukunftsgesellschaft vollkommener Befreiung aus allen herkunftsbedingten Lebensverhältnissen.

Auch in dem nun vorliegenden Buch bleibt Hermann Lübbe, den ich nicht als neokonservativ, sondern als wertkonservativen Kulturphilosophen bezeichnen möchte, bei seinen Forschungsfragen erfrischend aktuell. In beeindruckender Weise analysiert er die Trends sozialer, kultureller und politischer Entwicklung samt Krisensymptomen und Folgelasten auf Grund permanenter Modernisierungsschübe für die westliche bzw. globale Gesellschaft. In sechs Hauptkapiteln kreisen seine Überlegungen um die „Trends zivilisatorischer Evolution“, „Autarkieverluste. Politik nach dem Ende des real existent gewesenen Sozialismus“, „Die Freiheit, die Moral und der Terror“, „Religion und Theologie in Modernisierungsprozessen“, „Politische Optionen deutscher Intelligenz“ sowie „Freie und nützliche Wissenschaft. Universitätsreformen in Deutschland“. Lübbe beweist sich darin als brillanter Diagnostiker, der mit sicherem Tastsinn klaffend offene Sozialwunden aufspürt, auch wenn man hinsichtlich der von ihm vorgeschlagenen Therapievorstellungen dann anderer Meinung sein mag. Das tut der Qualität des Diskurses jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil. Lübbe entwirft eine sozialphilosophische Genese der wissenschaftlich-technischen sowie ökonomischen (Global)Evolution - parallel sieht er die Selbstorganisationsprozesse von kleinen Einheiten, „Herkunftswelten“, die revitalisiert werden, lokal und national, kulturell und religiös. Immer wieder ist Lübbe auf der Suche nach „Orientierungswissen“, sieht er sich in der Rolle eines intellektuellen „Sinnvermittlers“. Er will den Interpretations- und Sinnfragen individueller wie gesellschaftlicher Existenz nachkommen, entkoppelt von einem bloß wissenschaftlich-technischen „Arbeitswissen“. Es geht ihm darum, Antworten auf den hohen Qualifizierungs- und Veränderungsdruck zu finden, wobei er eine zentrale Überzeugung vermittelt: Je mehr emanzipatorisch freigesetzt und gefordert wir uns in unseren Lebenseinrichtungen selbst definieren und uns auf singuläre Lebensverhältnisse einzustellen haben, um so mehr sind wir auf eine sichere Verfügbarkeit dessen angewiesen, was in seiner Nötigkeit und Geltung sich immer durchhält, also auf Kanonisches und Klassisches. Um was es sich hierbei handelt, macht die Auseinandersetzung mit Hermann Lübbe sehr spannend. M. O.

Lübbe, Hermann: Modernisierung und Folgelasten: Trends kultureller und politischer Evolution. Berlin (u. a.): Springer, 1997. 414 S., DM 58,- / sFr 52,50 / öS 423,-