Das Vermächtnis und die Tradition der Aufklärung begeistern bis heute auch Sigmar Gabriel, den aktuellen Vorsitzenden der SPD. In seinem Buch „Links neu denken. Politik für die Mehrheit“ gibt er Auskunft über seine politischen Vorstellungen. Neben der Aufklärung sei es die Idee der Emanzipation, die ihn dazu führten, sich politisch links zu verorten.
Bei der Frage der Integration macht Gabriel deutlich, dass es zwei Ebenen des Integrationsanspruchs an Migratinnen und Migranten geben kann: Anpassung an eine nationale Kultur und Unterwerfung unter die Prinzipien der Aufklärung. Vorerst aber teilt er die Meinung von Garton Ash, dass bestimmte Ansprüche kontraproduktiv sein könnten. Mit autoritär vorgetragenen Ansprüchen „wecken wir bei den Adressaten Widerstände und fördern eine eher feindliche Grundeinstellung zu unserer Kultur.“ (S. 331). Gabriel aber meint, dass deswegen nicht der Anspruch auf die Akzeptanz der Bestände der Aufklärung relativiert werden müsse. Ihm geht es darum, dass MigrantInnen nicht gezwungen werden sollten, sich eine nationale Leitkultur („Werdet Deutsche!“) überzustreifen. Verzichtet man auf diese Nationalkultur, so sei es leichter die Kultur der Aufklärung durchzusetzen. „Worauf wir freilich einen Anspruch erheben sollten, ist die prinzipielle Akzeptanz der Werteordnung, die unser Grundgesetz vorgibt. … Die einzige Leitkultur, der sich wirklich alle Menschen in Deutschland anschließen müssen, findet sich in den ersten 20 Artikeln unserer Verfassung.“ (S. 331) In den ersten 19 Artikeln der deutschen Verfassung sind die Grundrechte in der Tradition der Aufklärung niedergeschrieben, in Artikel 20 ist der Charakter der demokratischen Republik bestimmt. Auf dieser Grundlage sei der Dialog zu suchen und seien Kompromisse in anderen Belangen des Zusammenlebens zu finden.
Diese Fragen sind allerdings nur ein Teil der Themen, die Gabriel an dieser Stelle abhandelt. Links zu sein, so meint er, sei in Zeiten der Ausrichtung an Marketingkonzepten unpopulär geworden. Davon will Gabriel weg. „Die Mitte“ sei nicht mit dem Slogan „Keine Experimente!“ zu gewinnen. Die Mitte werde von Menschen gebildet, die auf überzeugende politische Ansprache und Angebote warten. Gabriel benennt diese Angebote. Es gehe darum, Ausgrenzung aus der Gesellschaft aus materiellen, sozialen oder kulturellen Gründen zu verhindern. Möglichkeiten zur Verbesserung des Lebens sollten angeboten, Abhängigkeiten verhindert werden. Die Kunst des Regierens in modernen Gesellschaften sei allein im klugen Zusammenspiel von Markt, Bürgergesellschaft und Staat zu finden. (S. 130) Gabriel kritisiert eine „Protest-Linke“ (S. 126), die auf Gestaltung verzichte.
Innovativ ist Gabriels Idee der Beschäftigungsversicherung. Die würde so funktionieren: Die Bundesagentur für Arbeit führt Lernzeitkonten für jeden Einzelnen ein. Auf diese können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer Überstunden oder Teile der Freizeit, die vom Unternehmen in Vergütungen umgewandelt werden, einzahlen. Und es können Qualifizierungsgutscheine direkt von der Agentur gutgeschrieben werden. Der Arbeitnehmer kann diese Finanzierung von Zeiten der Fortbildung dann selbstbestimmt in Anspruch nehmen. Diese Flexibilität werde dem modernen Arbeitsmarkt, der immer häufiger Arbeitsplatzwechsel erfordert, der hohen Bedeutung des lebenslangen Lernens und dem Wunsch nach Selbstbestimmung gerecht. (S. 287.)
Gabriel, Sigmar: Links neu denken. Politik für die Mehrheit. München, Zürich: Piper, 2008. 373 S., € 16,90 [D], 17,40 [A], sFr 30,-
ISBN 978-3-492-05212-2