Jahrhundertwende

Ausgabe: 2011 | 1

An der Wurzel der Diskussion über globale Gerechtigkeit stand die Frage, ob eine kosmopolitische Bestimmung von Gerechtigkeit möglich, oder ob diese relativ zu einer Gruppe zu bestimmen ist. Diese abstrakte Frage spiegelt sich in der Migrationsdebatte wieder: Inwieweit ist die Wertevielfalt unterschiedlicher Ethnien zu akzeptieren und inwieweit sind allgemeine Prinzipien (wie die der Aufklärung) generell durchzusetzen, weil universell gültig?

 

 

 

Fundamentalistische Aufklärung?

 

Eine Schlüsseldebatte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends dreht sich um das Verhältnis des Westens zum erstarkenden Islamismus. Timothy Garton Ash hat in dieser Debatte eine besondere Rolle inne. Mit seinem Essay „Islam in Europe“ hatte er einen brisanten Aspekt angesprochen. Steht dem islamistischen Fundamentalismus auch ein Fundamentalismus der Aufklärung gegenüber?

 

Der Essay ist jetzt Teil des Buches „Jahrhundert-Wende“, das Texte von Timothy Garton Ash aus den Jahren 2000 bis 2010 versammelt. Garton Ash ist einer der wichtigsten Historiker, die journalistisch arbeiten. Und er ist einer der einflussreichsten Journalisten, die ihr historisches Wissen zu nutzen verstehen.

 

Das Buch beginnt mit Betrachtungen über die Samtenen Revolutionen in Serbien und der Ukraine und verfolgt deren Verlauf. Es behandelt die Entwicklung Europas in den Jahren der Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Osteuropa. Es folgt die Außenpolitik George W. Bushs bis zur Wahl von Barack Obama. Man findet Ashs Meinung zur Entwicklung in Birma und in Ägypten und schließlich Essays über die Rolle der Intellektuellen in diesen zehn Jahren.

 

Der aufsehenerregendste Essay war allerdings der über den Islam in Europa und die Kritik eines „Fundamentalismus der Aufklärung“. Es zahlt sich aus, diese Debatte erneut Revue passieren zu lassen. Was war der Hintergrund?

 

Am 2. November 2004 war der niederländische Filmemacher Theo van Gogh von Mohammed Bouyeri ermordert worden. Der Täter hinterließ eine Botschaft, wonach er den Untergang Amerikas, Europas, der Niederlande und der „Fundamentalisten des Unglaubens“ prophezeite. Besonders hervorgehoben in seiner Botschaft wurde die holländische Politikerin Ayaan Hirsi Ali, die mit van Gogh zusammengearbeitet hatte. Vor allem der gemeinsame Film „Submission“ über die Unterdrückung von Frauen in einigen muslimischen Familien hatte für Aufsehen gesorgt.

 

Garton Ash setzte sich in seinem Essay wertschätzend gegenüber der Person aber sehr kritisch mit der politischen und kulturellen Botschaft der Arbeit von Hirsi Ali auseinander. Er argumentiert, dass die Täterinnen und Täter bei islamistisch begründeten Terrorakten vor allem „Dazwischenmenschen“ seien, die in der ursprünglichen Heimat ihrer Familie Auswanderer und in ihrem neuen Land Einwanderer seien. „Kulturell haben wir es hier mit gespaltenen Persönlichkeiten zu tun“ (S. 223). Hirsi konfrontiere in ihrer Arbeit dieses Milieu der Gesellschaft aber mit Forderungen, die mit Zurückweisung rechnen müssen. „Wenn säkulare Europäer fordern, dass diese ihren Glauben – den säkularen Humanismus – annehmen, dann ist das genauso intolerant, als wollte uns ein heiliger Krieger seinen Glauben aufzwingen.“ (S. 229). Hirsi sei eine „tapfere, freimütige und manchmal etwas schlicht argumentierende Fundamentalistin der Aufklärung.“ (S. 228). Dies war die kontroverse Seite des Textes, der in dem Aufruf mündete, „jene Spielarten [des Islam als Religion, S. W.] zu unterstützen, die mit den Grundsätzen des modernen, liberalen und demokratischen Europa vereinbar sind.“ (S. 232)

 

Garton Ash wurde vor allem dafür kritisiert, dass er den Begriff des „Fundamentalismus der Aufklärung“ verwendet hatte, der als Gleichstellung dieser Ansichten mit einem islamistischen  Fundamentalismus gedeutet wurde. Erschwerend wurde angeführt, dass er ein bedrohtes Opfer des religiösen Fundamentalismus in den Mittelpunkt der Kritik stellte. Inwieweit – so die sich daraus abzuleitende Frage – soll in einer freien Gesellschaft eine Meinungsäußerung sich an der Sensibilität von Gegnern der freien Gesellschaft orientieren? Gorton Ash verzichtete in der Folge auf den Begriff, er verteidigte aber weiter die Stoßrichtung des Textes.

 

Gorton Ash, Timothy: Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000 - 2010. München: Hanser, 2009. 491 S., € 25,90 [D],  26,70 [A], sFr  45,- ISBN 978-3-446-23598-4