Was es bedeutet, gesund zu sein

Ausgabe: 2010 | 4

„Arzt zu sein war einmal ein schöner Beruf. Zufriedene Ärzte gibt es auch heute noch, aber sie sind selten geworden. Ihre medizinische Kompetenz ist größer denn je, und doch müssen sie sich immer häufiger Kritik gefallen lassen. Diese bezieht sich sowohl auf die steigenden Kosten des medizinischen Handelns als auch auf eine wachsende Diskrepanz zwischen den Erwartungen, welche die Medizin erfüllt, und denen, die sie enttäuscht.“ Mit diesen Sätzen, die eine nicht weniger als 640 Seiten umfassende Abhandlung einleiten, gibt Klaus M. Meyer-Abich, Physiker und Philosoph mit umfassender politischer Erfahrung, die Richtung seiner Überlegungen vor. Die unbestreitbaren technischen Erfolge der Medizin  Gesellschaft– so seine zentrale Botschaft – können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir das eigentliche Ziel eines gelingenden Lebens – das „Bedürfnis nach Selbstsein im Mitsein“ (S. 453) zunehmend aus den Augen verloren haben. Indem wir uns als Individuen wie auch als Gesellschaft viel zu wenig mit unserer Gesundheit, um so mehr aber mit unseren Krankheiten beschäftigen – mehr noch: sie als Feinde betrachten und mit aller Konsequenz und Vergeblichkeit bekämpfen – bestärken wir die Krankheitsorientierung der Medizin. Damit aber verkennen wir, dass eine Existenz in „leidloser Tüchtigkeit“ (V. v. Weizsäcker, S. 47) noch lange nicht bedeutet, ein sinnerfülltes Leben zu führen.

 

Ausgehend von der Kritik einer ausschließlich somatisch, naturwissenschaftlich und ökonomisch orientierten Medizin (die Behandlung, aber nicht Heilung honoriert), plädiert der Autor für eine Medizin als „Mit-Wissenschaft“ und, umfassender betrachtet, für eine Heilkunst, die die Bewahrung der Gesundheit in den Mittelpunkt ihres Tuns rückt, indem sie – wie Goethe es formulierte, „der Natur nachahmt“ (S. 116).

 

Ins Zentrum seiner weiteren Ausführungen rückt Meyer-Abich die Rolle von Gesundheit und Krankheit im „Mitsein“. Aus der Perspektive der Psychosomatik etwa erörtert er den ausgeprägten und weit verbreiteten Willen zum Kranksein (auch als Verweigerung gegenüber den Anforderungen der Leistungsgesellschaft); aus Sicht des „gesellschaftlichen Mitseins“ wird hingegen verhandelt, inwieweit der/die Einzelne oder die Gesellschaft für Gesundheit bzw. Krankheit Verantwortung tragen. Bestätigt werden dabei einmal mehr Untersuchungen, die „Kollektivkräften“ (E. Durkheim) oder dem „Sozialkapital“ (nach R. D. Putnam) eine signifikante Bedeutung beimessen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür, das Gesundheitsrisiko für (potenziell) gefährdete Personen signifikant zu senken, liegt demnach vor allem darin, „dass sich die Allgemeinheit für die Auswüchse ihrer Lebensweise verantwortlich fühlt“ (S. 260). Das Zusammenspiel von gesellschaftlicher und individueller Verantwortung bringt der Autor folgendermaßen auf den Punkt: „Anfangen kann jeder einzelne mit einer Zuwendung zum eigenen Leibsein, insbesondere durch körperliche Bewegung und eine gesündere Ernährung. Zur Verhältnisprävention aber bedarf es öffentlicher Verkehrsmittel, autofreier Straßen, gesunder Schulen, rauchfreier Restaurants und dergleichen mehr. (…) Die Verhältnisprävention ist eine Stärkung des gesellschaftlichen Immunsystems.“ (S. 264). Die Diskussion „pathogener Hierarchien in Natur und Gesellschaft“ führt Meyer-Abich u. a. zur zentralen Bedeutung gesundheitsförderlicher Arbeitsverhältnisse (deren Fehlen er in erster Linie als „soziales Versagen unseres Bildungswesens“ ausmacht (vgl. S. 320).

 

Schließlich wird das Zusammenspiel von Gesundheit und Krankheit im Kontext des „natürlichen Mitseins“ erörtert, wobei der Autor vor allem auf das „Bedürfnis nach einer sinnvollen Zugehörigkeit des Menschen“ herausarbeitet (die für ihn auch die Dimension des Spirituellen mit einschließt). Man mag darüber streiten, ob Krebskrankheiten – wie Meyer-Abich, zugegeben mit Vorsicht formuliert, als Folge „der Begrenzungskrise des menschlichen Naturverhältnisses“ zu deuten sind (vgl. S. 409ff.); dass hingegen die „Verdammung der Magie“ sowie Umweltkrankheiten – nicht zuletzt verursacht durch ungewollte Nebenwirkungen exzessiven Medikamentenmissbrauchs – unser Verständnis von Krankheitsbehandlung mit prägen, dürfte weitgehend außer Zweifel stehen.

 

„Wie möchten wir in Zukunft leben? Gesundheit durch erfüllte Bedürfnisse“ hat der Philosoph den zentralen Abschnitt seiner Reflexionen überschrieben, in die er eine Fülle von Bezügen aus Philosophie- und Naturgeschichte mit eingewoben hat. Mit Clayton P. Alderfer definiert er dabei das Zusammenwirken von Existenz-, Bezogenheits- und Selbstverwirklichungsbedürfnissen als Voraussetzung für ein gesundes, als Ganzes empfundenes Leben. Freiheit, Sicherheit und Selbstbestimmung sieht der Autor dabei – wie andere auch – als Voraussetzung, um den Verwüstungen der Konsumgesellschaft entgegenzuwirken. Denn: „Wenn alle Menschen alle Dinge intrinsisch motiviert und ihrer selbst willen täten, persönlich wie um der Sache willen, und auch die gesellschaftlichen Verhältnisse darauf eingerichtet wären, so zu leben, gäbe es wohl nur noch relativ wenige Krankheiten.“ (S. 474).

 

Wenn, wie Meyer-Abich letztlich postuliert, die Aufgabe der Ärzte – und dabei denkt er vor allem wohl an Allgemeinmediziner – nicht darin besteht, Krankheiten zu unterdrücken oder auszumerzen, dann liegt es auf der Hand, diesem Berufsstand ein grundsätzlich neues Selbstverständnis zu empfehlen: Ärzte sollten versuchen, ihr Gegenüber „im Horizont ihrer menschlichen Ganzheit zu verstehen“ (S. 544), die „medizinische Therapie zur ärztlichen Situationstherapie erweitern“ (S. 547) und „die Selbstheilungskräfte des Kranken unterstützen, wenn dieser gesund werden will“ (551), empfiehlt der Autor. Individuelle Gesundheitsberatung und „Public Health Management“ als komplementär sich ergänzende Teile eines präventiven Gesundheitssystems zu propagieren und umzusetzen, setzt freilich einen Bewusstseinswandel voraus, für den Meyer-Abich – historisch fundiert und über weite Strecken auch überzeugend – eine Vielzahl triftiger Argumente vorbringt, auch wenn so mancher Satz in Anbetracht der herrschenden Verhältnisse wohl primär dem Prinzip Hoffnung geschuldet ist. Auch wenn die Radikalität, mit der Meyer-Abich die Leistungen einer somatisch ausgerichteten High-Tech-Medizin in Frage stellt – wer würde diese im Akutfall nicht in Anspruch nehmen wollen? – manche befremden mag, so liefern seine Überlegungen doch eine Fülle von Argumenten dafür, die Bedeutung von und die Verantwortung für ein gesundes Leben grundlegend zu überdenken. Ein Titel, der breite Resonanz verdient und der Mut zur Veränderung auf allen Ebenen einfordert. W. Sp.

 

Meyer-Abich, Klaus Michael: Was es bedeutet, gesund zu sein. Philosophie der Medizin. München: Hanser, 2010. 640 S. € 29,90 [D], 30,80 [A], sFr 50,80

 

ISBN 978-3-446-23413-0