Judith Butler

Die Macht der Gewaltlosigkeit

Ausgabe: 2021 | 3
Die Macht der Gewaltlosigkeit

Jeder beansprucht sie für sich – doch scheint sie vielfach nicht realisierbar zu sein: Gewaltlosigkeit. Die amerikanische Philosophin Judith Butler stellt in ihrem neuen Buch viele wichtige Fragen, die unbeachtete Gewalt aufdecken und Gewaltlosigkeit von ihrer Selbstverständlichkeit befreien, die ihr innewohnende Macht zu dechiffrieren. Unklare Begriffe erschweren die Debatte: ist allein der physische Schlag als Gewalt anzusehen oder zählen auch Sprechakte und systemische Strukturen dazu? Wir müssen sehr genau hinsehen, wenn eine Autorität Gewaltlosigkeit für sich beansprucht, während sie systemisch Gewalt gegen jene anwendet, die ihre Freiheit vertreten. Ein Staat beruft sich nicht selten auf Selbstverteidigung gegen eine Gruppe, und schreibt dieser Gewalttätigkeit zu, nur um die eigene zu legitimieren. Es ist notwendig, über die moralische Frage für oder wider Gewalt hinauszugehen und zu untersuchen, wie Gewalt definiert ist, wer als gewalttätig benannt wird und mit welcher Absicht. Um nicht in einem Meinungswirrwarr oder Relativismus stecken zu bleiben, müssen wir unterscheiden können zwischen taktischer Gewaltzuschreibung und systemischer Gewalt, die sich der Wahrnehmung zu entziehen versucht.

Die Vorstellung, Gewalt ließe sich zum Zweck des Selbsterhalts nicht vermeiden, wenn wir uns schon in ihrem Kraftfeld befinden, gilt es zu analysieren: ist sie unvermeidbar, nur weil sie schon vorher da war? Wer ist dieses Selbst, um dessen Verteidigung es gehen soll? Wie grenzt es sich ab gegenüber anderen „Selbsten“ – gehört der, dem Gewalt widerfahren soll, nicht dazu? Das Leben ist von Interdependenzen gezeichnet, jeder Mensch durch Abhängigkeitsbeziehungen geformt und am Leben erhalten. Alles Lebendige ist Teil dieses Gefüges, ebenso die Umwelt und Leben-ermöglichende Infrastrukturen. Dies impliziert soziale Gleichheit, und Gewaltlosigkeit wäre eine Weise, diese anzuerkennen. Der vorherrschende Individualismus wird fragwürdig, da er Interdependenzen verschleiert. Mit dem Begriff der „Betrauerbarkeit“ veranschaulicht Butler, wie die Wahrnehmung dieser Gleichheit erschwert wird, wo wir auf vorliegende Einstufungen treffen, nach denen das eine Leben schützenswerter sei als das andere. Butler plädiert mit Freud, Einstein und Gandhi für eine aggressive Gewaltlosigkeit und entlässt uns damit hoffnungsvoll in eine wandelbare Zukunft.