Die Bürgergesellschaft

Ausgabe: 2002 | 4
Die Bürgergesellschaft

Die Bürgergesellschaft. Perspektiven für Bürgerbeteiligung und BürgerkommunikationDie Rollenverteilung gleicht sich in vielen Ländern, so auch in Deutschland: Bürgerinitiativen und NGOs werden als Ideenlieferanten für Regierungs- bzw. Oppositionsparteien, je nach Bedarf herangezogen. In üblichen, inhaltsleeren Wahlkämpfen werden ethische Appelle gegen neoliberale Globalisierung, Militarisierung und Unterordnung der Ökologie unter die Ökonomie eher als störend und die Wahlchancen mindernd empfunden, vor allem, wenn sie von den Wählern Opfer verlangen - z.B. eine drastische Erhöhung des Benzinpreises oder die Besteuerung von Spekulationsgewinnen.

Im detailreichen Sammelband werden diese und andere Spannungselemente „mit deutscher Gründlichkeit“ auf-gearbeitet. Der wiedergewählte Bundeskanzler Gerhard Schröder hinterfragt die unterschiedliche Bedeutung von „Ehrenamt“ und „freiwilliger Arbeit“ für Berufstätige und Arbeitslose: „Solange die Erwerbsarbeit ein zentrales Moment nicht nur der gesellschaftlichen Anerkennung ist, sondern auch der Selbsteinschätzung, ja der menschlichen Würde überhaupt, wird ein Arbeitsloser das 'Ehrenamt' allenfalls als gesellschaftlichen Trost empfinden. Das, zusammen mit den Prophezeiungen vom 'Ende der Erwerbsarbeit' überhaupt, ist für mich der blinde Fleck in allen Konzepten, die sich von 'Ehrenamt' und 'Bürgergeld' eine neue soziale Realität erhoffen. Ich fürchte, so einfach wird es nicht gehen. Das Ehrenamt kann nur Zusatz zur Arbeit sein, nicht deren Ersatz.“ ( S. 187f). Schröder gesteht ein, „dass der Sozialdemokratie die Abgrenzung zwischen Sozialstaat und Zivilgesellschaft nicht immer leicht gefallen ist... zwischen Arbeiterschaft und genos-senschaftlicher Selbstorganisation" (S. 190). Andererseits präsentiert er die "zivile Bürgergesellschaft" gewissermaßen im Doppelpack (S. 164). Thomas Meyer ist ihm da einige Schritte voraus und konstatiert eine "Parallelgesellschaft" (S. 343 ff).Die Realität ist allerdings desillusionierend. So suchen bankrotte Städte wie Berlin und München Ersatz für professionelle Arbeit durch sich selbst ausbeutende Freiwillige. Allenfalls Herzeige-Einrichtungen erhalten in Wahlkampfzeiten öffentlichkeitswirksame Unterstützungen. Aber welche Funktion wird ihnen zugestanden? Etwa die des urologischen Sektors, dem die Aufgabe übertragen wird, den Organismus belastende bzw. gefährdende Prozessprodukte zu neutralisieren oder auszuscheiden, um das weitere reibungslose Funktionieren des Systems sicherzustellen, allerdings ohne dessen Gesamtkonstitution infrage zu stellen? Roland Roths Analyse der Bürgerbeteiligung an kommunalpolitischen Entscheidungsstrukturen (S. 163ff) und als zivilgesellschaftliche Akteure in Organisationen und Netzwerken für eine „transnationale Demokratie“ (S. 290ff) spart diese Mehrfachbelastungen nicht aus. Denn v. a. an international tätige Initiativen werden wachsende Ansprüche gestellt, die sie auf Dauer nur unter großen Opfern erbringen können. Dazu kommt noch, dass ihnen ihr zivilgesellschaftlicher u. NGO-Status auch von (transnationalen) Konzernen und ihrer Lobbyor-ganisationen streitig gemacht wird. Schulterklopfendes Wohlwollen durch Politiker aller Couleurs helfen dagegen Vielmehr gilt es, tragfähige Strukturen zu schaffen, die allerdings auch Freiräume für unterschiedliche politische Überzeugungen und Strategien zulassen. M. Rei.

Bei Amazon kaufenDie Bürgergesellschaft. Perspektiven für Bürgerbeteiligung und Bürgerkommunikation. Hrsg. v. d. Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn: Dietz, 2002. 463 S., € 19,80; ISBN 3-8012-0317-4