Diagnose „Suchtgesellschaft“

Ausgabe: 2012 | 2

Der Autor des Buches „Junkies wie wir“ spricht von einem Massenphänomen namens Suchtgesellschaft. Da die öffentliche Wahrnehmung sich in erster Linie auf „substanzbezogenen Süchte“ konzentriere, hätten sich in deren Schatten Süchte verbreitet, die gesellschaftlich akzeptiert seien: exzessives Shoppen, Arbeiten oder Internet-Surfen, so Korosch Yazdi. Der Psychiater, Leiter der Suchtabteilung eines österreichischen Krankenhauses, spricht hier von „Verhaltenssüchten“. Er geht davon aus, dass in jedem und jeder von uns ein Junkie steckt und erklärt dies mit biochemischen Prozessen im Belohnungszentrum unseres Gehirns. Die Wirtschaft mache sich das zunutze, indem sie selbst kritische KonsumentInnen zu Suchtgetriebenen „umerziehen“ würde. Dabei habe sie es besonders auf Kinder und Jugendliche abgesehen, um so das Suchtverhalten möglichst nachhaltig in unser aller Leben zu verankern.

Verhaltenssüchte bedienen schnell und unkompliziert die zutiefst menschliche Suche nach Beziehung, so die Erklärung des Autors: „Die Umwälzungen im gesellschaftlichen Leben – das sterile Familienleben, die Skrupellosigkeit der Wirtschaft, die Hilflosigkeit des Gesundheits- und Sozialapparates, die Fehleinschätzungen des Bildungssystems, die Feigheit der politischen Kaste – all das ist Synonym für die totale Beziehungslosigkeit, die die Suchtgesellschaft kennzeichnet. Weil alle nur mehr mit Spielen, Shoppen und dem Internet beschäftigt sind und diese Tätigkeiten aufgrund ihrer biochemischen Wirkung im Belohnungszentrum direkt ins Hamsterrad der Suchtbefriedigung führen, haben die Menschen den Bezug zu Beziehungen verloren“ (S. 158) Yazdi spricht gar von einer „beziehungsunfähigen Gesellschaft“, in der die Menschen weder ihre Freunde noch ihre Kollegen noch ihren Arbeitgeber persönlich kennen. 2030 markiere der „Beziehungsunfähige“ einen „Point of no return“, weil er nicht weitergeben könne, was er selbst niemals gelernt habe. Nicht zuletzt würden sich die Symptome der Suchtgesellschaft in der Körperlichkeit der Menschen widerspiegeln. „Die beziehungsunfähige Gesellschaft ist gleichzeitig eine Krüppelgesellschaft, die sich aus Fettleibigen, Herzschwachen, Diabetikern, Mangelernährten, Buckeligen und Halbblinden rekrutiert. Für keine der weitverbreiteten Verhaltenssüchte ist mehr ein Ausflug in die reale Welt notwendig.“ (S.159).

Im abschließenden Kapitel „Warum wir die Verhaltenssüchte nach wie vor besiegen können“ beschreibt Yazdi anhand von neun Maßnahmen, wie wir vom „Horror- zum Rettungszenario“ gelangen können. So empfiehlt der Autor der Politik, neue Prioritäten in Richtung Suchtbekämpfung und Beziehungserziehung zu setzen, um beziehungsfähige Nachfolgergenerationen zu fördern. So werden etwa „Beziehungsfrüherziehung“ und neue Bildungsschwerpunkte vorgeschlagen. Als Modell gilt dem Autor etwaFinnland (smithsonianmag.com), wo die SchülerInnen neun Jahre im Klassenverband bleiben und nur die Besten als LehrerInnen zugelassen werden. Mit der „Wiederentdeckung der Ausgewogenheit“ wird die Koexistenz verschiedener Aktivitäten angeregt, wobei „existenziellen Lebensinhalten wie Freunden, Familie, Ausbildung und Beruf“ immer der Vorzug vor den „Dopaminkicks“ der Entertainmentwelt zu geben sei (S. 185). Yazdi fordert aber auch Beschränkungen für Suchtangebote, z. B. ein Verbot von Werbungen an Schulen. Schließlich gehe es um Selbstbeobachtung und Hilfen für Selbstbeschränkung (z. B. Limits für Bankomat- und Kreditkarten) und um die Offenheit für Vielfältigkeit: „Wer es schafft, sich vom Grundsatz ´more of the same´ zu emanzipieren und wer immer wieder neue Facetten in sein Leben lässt, hat einen entscheidenden Schritt in Richtung suchtfreies Leben gemacht.“ (S. 201). Zuletzt weist der Autor auch auf die Vorbildwirkung hin: „Leben wir ohne Verhaltenssüchte, steigen auch die Chancen, dass unsere Kinder ohne Verhaltenssüchte leben.“

Luisa Grabenschweiger

Yazdi, Korosch: Junkies wie wir. Spielen, Shoppen, Internet. Was uns und unsere Kinder süchtig macht. Wien: edition a, 2013. 203 S. € 19,95 [D] 20,60 € (A), sFr 24,00 ISBN 978-3-99001-052-5

„Die öffentliche Wahrnehmung stürzt sich in erster Linie auf substanzbezogene Süchte, die die ´öffentliche Ordnung´ beeinträchtigen. In deren Schatten konnten sich Süchte verbreiten, die rein gar nichts mit dem gängigen Bild von Abhängigkeiten zu tun haben – die Verhaltenssüchte.“ (Yazdi, S. 9)

„Unsere Gesellschaft shoppt, zockt und surft sich in einen kollektiven Rausch. Völlig legal, weil der Ausgangspunkt des Rausches als Kulturpraxis anerkannt ist.“ (Yazdi, S. 9)

 

 


 

 [WS1]Das ist m. E. zu kommentieren – oder zu streichen.

 Polemik pur, effekthascherisch