Der Implex

Ausgabe: 2012 | 2

Man muss heute wissen, was der Implex ist. Das liegt daran, dass Dietmar Dath und Barbara Kirchner mithilfe dieses Begriffs eine Skizze für Weltverbesserung vorgelegt haben. Weil Dath und Kirchners Meinung etwas zählt, ihr Buch war in den Feuilleton bereits vor dem Erscheinen heiß diskutiert, wird der Begriff in Zukunft immer häufiger verwendet werden. Also, darum geht es bei einem Implex: Formallogisch ist ein Implex erstens das, was expliziert werden kann. In der Genealogie steht der Begriff zweitens für die seltene Situation, dass eine Person mehrfach in der Ahnenliste vorkommt (beispielsweise als Sohn und Gatte / Mutter und Gattin)und man dadurch drastisch weniger Vorfahren hat. Poetisch-metaphorisch steht Implex drittens für den Anteil eines Musters, der weder der „Form“ noch dem „Inhalt“ zuzurechnen ist. (S. 44)

 

Dath und Kirchner nutzen den Begriff, um ihre Idee von Fortschritt zu beschreiben. Dieser zielt – anders etwa als bei Hegel oder Marx – nicht auf einen bestimmten Punkt.  Von Hegel behalten die Vorstellung von Bewegung zwar bei, verwerfen aber deren Gerichtetheit. Aufbauend auf dieser Grundidee denken sie über die Optionen emanzipatorischen Handelns nach.

 

Das Buch hat 835 Seiten und mäandert durch die politische Geschichte, die Philosophie und die Kunst. „Man könnte sagen, daß das Buch eine Art Roman in Begriffen ist. Es begleitet die Schicksale von Versuchen, die Welt besser einzurichten, als die neuzeitlichen Menschen sie vorfanden, als sie anfingen, neuzeitliche Menschen zu sein“, so die Autorin und der Autor. (S. 15)

 

Diese Verbesserung, genauer: Umgestaltung des Gemeinwesens braucht als Beteiligte auch jene, die die bestehende Gesellschaft stabil erhalten. Diese Motivation Aller könne man nur erreichen, indem man die Vielzahl der einzelnen Konflikte überzeugend als Konflikte mit Herrschaft formuliert. Dazu muss ein gemeinsames Interesse vorliegen. Dath und Kirchner meinen, dass dies die Erfahrung ist, davon ausgeschlossen zu sein, darüber zu bestimmen, was mit einem selbst passiert (S. 431).

 

Das Buch beschäftigt sich mit vielen Debatten der vergangenen Jahrhunderte, kommentiert sie, versucht daraus Wissen zu gewinnen und Abgrenzungen deutlich zu machen. Diese Teile können oft mit großem Gewinn – durchaus auch getrennt von der Gesamtlektüre – gelesen werden. Ein Beispiel ist die Beschäftigung mit dem amerikanischen pragmatischen Philosophen Richard Rorty und dem deutschen Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma. Rorty und Reemtsma werden vor allem mit ihrer Kritik des Wahrheitsanspruchs der Philosophie rezipiert. Rorty hatte den Rückzug der Philosophie auf die Unterstützung des Lebens propagiert, in dem das Vermeiden des durch Empathie feststellbaren Leidens in der Gesellschaft als Leitidee ausreichen muss. Dath und Kirchner kritisieren mithilfe von Peter Hacks: Wenn die Einzelwissenschaften die Begriffe festlegen können sollen, aber die Philosophie dann nicht mehr an ihnen schrauben soll, besteht das Risiko, dass der Eindruck entsteht, es gebe eben nicht mehr und nichts anderes, es könne und solle eben nicht mehr und nichts anderes geben, als was es nun einmal gibt…“ (S. 596)

 

Ein Endziel gibt es nicht. „Vom Falschen zum Richtigen zu gelangen, kostet Energie und verarbeitet Informationen, aber es generiert auch welche. Mit vergangenen und zukünftigen Zivilisationen zu kommunizieren, den Implex zu explizieren und ihn damit zu verändern, denn er bleibt, weil jede Lage ihre Möglichkeiten hat, dabei bestehen, ist so aufwendig, wie mit Zivilisationen zu kommunizieren, die auf andere Weise anders sind als die erledigten und die künftigen; zum Beispiel nichtmenschlich.“ (S. 831). S. W.

 

Dath, Dietmar ; Kirchner, Barbara: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee. Berlin, Suhrkamp, 2012. 879 S., € 29,90 [D], 30,80 [A], sFr 41,90

 

ISBN 978-3-518-42264-9